Wir besuchen das Blindeninstitut München, eine Einrichtung der Blindeninstitutsstiftung, im Karree zwischen Romanstraße und Lachnerstraße, Renatastraße und Winthirstraße gelegen. Auf dem großen, von einer hundertwasserartigen Mauer eingefassten Gelände mit dem großen alten Gebäudetrakt ist einiges los. Es beherbergt unter anderem mehr als 160 blinde und sehbehinderte Kinder und Jugendliche zwischen 3 und 21 Jahren. Die gehen dort zur Schule oder in die heilpädagogische Tagesstätte, ins 5-Tage-Internat oder wohnen – kurz oder länger – im Haus.
Augen-Blick mal!
„So ein Schmarrn, das gibt es doch gar nicht! Wie sollen sich die Lehrer denn da zurechtfinden und ihre Lernziele erreichen?“
„Die Lehrer unterrichten nur ganz kleine Gruppen und beschäftigen sich mit den Interessen, Fähigkeiten und Fortschritten jedes einzelnen Schülers sehr genau – und immer wieder aufs Neue. Der Einzelne ist der Maßstab, nicht die gesellschaftliche Erwartung.“
(spitz) „Ach, Ihr Kind ist wohl ein ganz besonderes und geht womöglich sogar auf eine besonders feine Schule?“
„Ja, Josef ist besonders. Er ist sehbehindert. Und er besucht eine feine Einrichtung: die Maria-Ludwig-Ferdinand-Schule. Gleich hier ums Eck, in der Romanstraße. Haben Sie die etwa noch nicht gesehen? (leise) Wieder ein Mensch mit Tomaten auf den Augen …
Anders als der Name es erwarten lässt, sind die meisten der Kinder und Jugendlichen, die das Blindeninstitut besuchen, nicht vollständig blind. Aber das Sehvermögen ist stark beeinträchtigt – und es liegen weitere Handicaps vor. Sie können nicht laufen oder nicht richtig atmen, manche können nicht hören oder denken langsamer als andere. Einige brauchen Medikamente, Physiotherapie und vieles mehr. Ihr wichtigster Lebensort ist in der Regel die eigene Familie. Weil aber selbst die liebevollsten, aufmerksamsten und engagiertesten Eltern nicht alles leisten können, was ein junger Mensch braucht, um zu lernen, sein Leben so gut wie möglich zu leben, besuchen die Kids das Blindeninstitut. Das gibt es übrigens seit mehr als 30 Jahren. Es hat noch eine kleine Außenstelle in Solln und ist weit über München hinaus die einzige Einrichtung dieser Art. Insgesamt arbeiten rund 300 Mitarbeiter dort.
Dass jemand nicht gut sieht, erkennen sogar Laien schnell. Welche anatomischen Einschränkungen vorliegen, kann jeder Augenarzt herausfinden. Aber es gibt Aspekte des Sehens, die erst bemerkbar sind, wenn das Kind in seinem gesamten Verhalten länger beobachtet wird. Das Blindeninstitut leistet genau das. Als Förder- und Kompetenzzentrum in Sachen „anders sehen“ arbeitet es mit Ärzten, Orthoptisten und Kliniken eng zusammen. Dabei bringt es auch sehr viel Eigenes ein: ein umfassendes therapeutisches Angebot, einen reichhaltigen Erfahrungsschatz und kontinuierliche Weiterbildung der Betreuer. So ist die Einrichtung stets auf dem neuesten Stand der Wissenschaft und in der Lage, das Thema Sehen ganzheitlich und praxisnah zu betrachten. Mit einem eigenen „sehMOBIL“ unterstützt das Blindeninstitut andere Institutionen – zum Beispiel bei Diagnostik und Aufklärung in Sachen Sehschädigung.
Frühförderung ist das A und O bei jedem Krankheitsbild. Alles, was noch intakt ist, muss mobilisiert werden. Muskeln, die nicht im Einsatz sind, werden über die Jahre immer schwächer. Das Auge hat auch Muskeln und viele andere trainierbare Komponenten mehr. Orthoptisten sagen zum Beispiel, dass das räumliche Sehen vom Gehirn im jungen Alter gelernt werden muss. Es nutzt nichts, später eine Brille aufzusetzen, wenn die Bilder dann nicht richtig zusammengefügt werden. Auch darum ist es so wichtig, kleine Kinder so früh wie möglich zu behandeln.
Menschen, die „nur“ sehbehindert sind, können, wenn sie ein paar Strategien gelernt haben, große Lebensziele verwirklichen. In Neuhausen absolvieren immer wieder blinde Schüler ihr Abitur auf dem Adolf-Weber-Gymnasium. Diese Schule hat sich erfolgreich auf die Betreuung dieser so gehandicapten Schüler spezialisiert. Wie aber sieht es mit den schulischen Perspektiven der Kinder der Ludwig-Maria-Ferdinand-Schule aus? Wir treffen Connie Kölker-Damskis, die Leiterin der heilpädagogischen Tagesstätte. Sie zeigt uns bunte, warme Klassenzimmer, die ein Bild davon abgeben, was alles möglich ist: Wer nicht anders kann, darf während des Unterrichts im Bett liegen. Wer mobiler ist, läuft oder rollt zum nächsten Tisch. An den Wänden hängen die individuellen Stundenpläne. Darauf stehen so tolle Fächer wie Schwimmen – das Gelände beherbergt ein eigenes kleines Hallenbad – , Musiktherapie, Computer/iPad und Gartenarbeit. Wir entdecken auch Lerninhalte wie Unterwegssein, Gehwagen und Stehschale mit Rollen. Langsam wird es geheimnisvoll. Was bedeuten Airtramp und Snoezelen? Und was um Himmels willen versteckt sich hinter Wattestäbchen mit Brause und Eis?
Schulabschlüsse stehen bei diesem Unterricht nach dem „Lehrplan für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung“ nicht im Vordergrund, sondern etwas, das noch viel wichtiger ist: Die Kinder und Jugendlichen lernen Schritt für Schritt, ihren Lebensraum auszuweiten. Das können sehr kleine Schritte sein. Mit dem Strohhalm trinken, die Körperposition alleine verändern, Dinge greifen, sich im Raum orientieren. Jeder hat individuelle Lernziele – und natürlich lernen sie auch Rechnen und Schreiben. Einige üben sich auch in der Braille-Schrift, um zum Beispiel die in der schuleigenen Bibliothek stehenden Harry-Potter-Bücher zu lesen. Eine Ausgabe in Blindenschrift umfasst allein sieben dicke DIN-A4-Bände.
Praktikumsplätze: Das ist ein Thema, bei dem unter anderem die Nachbarschaft gefragt ist. Wer einem sehbehinderten Jugendlichen einen solchen anbietet, muss verstehen, dass der Praktikant oder die Praktikantin beim Sehen seine Grenzen hat – was aber, wenn man vorher daran denkt, gut kompensiert werden kann. „Ein junger Mensch, der Bleche ölen soll, muss eben die Ölflasche in die Hand gedrückt bekommen, sonst streicht er vielleicht die Tomatensoße auf“, erzählt uns Connie Kölker-Damskis, ein Fall, der sich jüngst so ereignet hat. Oft fehlt uns Sehfähigen einfach die Vorstellungskraft, was es bedeutet, sich auf die Augen eben nicht verlassen zu können. Wir merken an: Das ist ein Grund mehr, die Schlosswirtschaft Schwaige für ein erlebnisreiches „Dinner in the Dark“ zu besuchen, das dort regelmäßig angeboten wird.
Sollten wir es uns nicht schnellstmöglich zur Gewohnheit machen, die Welt auch immer wieder mal aus der Perspektive von anderen zu betrachten? Wer keine behinderten Menschen kennt, kann nicht einschätzen, was sie von ihm erwarten, und hat oft auch Angst, Fehler zu machen. Wie hilfreich ist es dann, einfach mal auf die Menschen zuzugehen, mitten in Neuhausen, wo die sehbehinderten Kinder und Jugendlichen vor dem Sarcletti stehen. Ganz wie wir, oder? Aber auch ein wenig anders! Wir snoezelen halt zu selten und sind immer im Stress. Schade eigentlich.
Wikipedia klärt auf
Unter Snoezelen (sprich: „snuselen“) – eine von zwei Zivildienstleistenden in den Niederlanden 1978 zusammengestellte Phantasieschöpfung aus den beiden Wörtern „snuffelen“ (schnüffeln, schnuppern) und „doezelen“ (dösen, schlummern) – versteht man den Aufenthalt in einem gemütlichen, angenehm warmen Raum, in dem man, bequem liegend oder sitzend, umgeben von leisen Klängen und Melodien, Lichteffekte betrachten kann.