Bildung ist in vielen Ländern unserer Welt keine Selbstverständlichkeit – leider. Wer des Lesens, Schreibens und Rechnens mächtig ist, kann einen Beruf ergreifen, Geld verdienen und seinen Nachwuchs besser durchbringen. Das ist der Kern der Sache, etwas ganz Normales also. Eltern sehen oft ganz andere Dinge: Der Ernst des Lebens beginnt mit der Einschulung – sofern nicht schon mit der Wahl des rechten Kindergartens geschehen. Am Ende der vierten Klasse steht dann erstmals die gesamte Zukunft auf dem Spiel. Ohne Einser-Abitur und Studienplatz an einer Eliteuniversität ist das Schicksal als Verlierer dann nach nur wenigen Lebensjahren endgültig besiegelt. Chancen verpasst, Leben versaut? Wir meinen: nein. Als Beweis für unsere optimistische Sicht der Welt gingen wir rein ins echte Leben – in eine vierte Klasse der Grundschule an der Blutenburgstraße.
Es ist ein warmer Sommertag im Juni. Für einige Stunden sind wir Gast in der Klasse von Heike Stark, in der elf Jungs und zehn Mädchen die letzten Wochen ihrer Grundschulzeit ziemlich gechillt verbringen können. Zwar lernen sie noch tüchtig, aber die größte Hürde, das Übertrittszeugnis, ist genommen. In Kleingruppen und ganz ohne Lehrerin plaudern wir mit Mädchen und Jungs über vier Jahre Grundschulzeit und die Pläne für das neue Leben – auf Wunsch nach Geschlechtern getrennt. Was es da nicht alles zu erzählen gibt! Absolutes Highlight der letzten vier Jahre sei der Besuch im Schullandheim Maxhofen mit einer sensationellen Abschlussparty gewesen. Erfreulicherweise stehe gerade jetzt wieder ein weiterer Landheimbesuch vor der Tür. Auch die jährlichen Sommerfeste im grünen Pausenhof werden von allen in höchsten Tönen gelobt. Und die Klassenlehrerin, da ist man sich einig, mache ihre Sache prima als „coolste Lehrerin der Welt“, auch wenn sie manchmal ganz schön streng sein könne. Apropos: Wie groß war die Anstrengung in den letzten Jahren? Ja, manchmal sei es richtig mühsam gewesen. Aber die ersten beiden Jahre waren einfach toll! Am Anfang der vierten Klasse habe man allerdings einmal drei Proben pro Woche geschrieben und sogar noch ein Referat anfertigen müssen. Das sei richtig Stress gewesen. Aber eigentlich war’s so schlimm auch wieder nicht. Nur habe man „ein bisschen Schiss gehabt wegen Real“ und so. Wir fragen vorsichtig nach, was der Übertritt für die einzelnen Schülerinnen und Schüler bedeutet habe. Na ja, man werde ausgelacht, wenn man nicht aufs Gymnasium komme, obwohl man ja Fußballer werden könne ohne Gymnasium, siehe Schweini und Poldi. Aber generell käme man eben doch nicht zu so tollen Berufen. Wir fragen nach den eigenen Berufszielen und hören: Wissenschaf t ler, Basketbal ler, Tierpflegerin (mehrfach), Erfinder, Elektriker, (Ko-)Pilot, Lehrerin, Modedesignerin, Zahnärztin, Schreiner, Fußballer (mehrfach), Computerfachmann, Detektiv, Sängerin. Interessanterweise stimmen diese Zukunftswünsche oft gar nicht mit der bevorstehenden Schulkarriere überein. Ein angehender Hauptschüler will Pilot werden und einige Gymnasiastinnen stellen sich vor, später Tierpflegerinnen zu sein. „Das Wichtigste ist doch der Job und dass ich Spaß habe“, sagt ein Junge. Ein Mädchen merkt an, dass sie das Gymnasium verlassen werde, wenn es sich doch als zu schwierig erweisen sollte. Dass die Eltern viel Druck gemacht hätten, berichtet keiner unserer Gesprächspartner, aber „jetzt ist es doch viel lockerer geworden“. Die Wege trennen sich im Sommer und das ist gut so für alle, sagen sie. Endlich mal wieder was Neues. Endlich weg von nervenden Jungs in der Klasse. Klar, man habe Freundschaften geschlossen, aber die könne man weiterhin pflegen, zum Beispiel auf dem Blutenburgspielplatz. Es weht der Geist des Aufbruchs in eine andere, unbekannte Welt. Wir stellen fest, dass vor allem diejenigen reden, die Richtung Gymnasium wechseln. Gehen sie dorthin, weil sie besser reden können? Oder reden sie besser, weil sie nun wissen, die Noten fürs Gymnasium in der Tasche zu haben? Mehr als die Hälfte der Menschen, die aktuell eine Hochschule besuchen, hat kein klassisches Abitur gemacht, sagt uns Frau Stark. Darum sei die Alles-odernichts- Mentalität, die sie von Jahr zu Jahr mehr bei den Eltern wahrnehmen könne, wenig förderlich. Der Zeitpunkt der Schulwahl findet in einem Alter statt, in dem kaum ein Kind einen fertigen Plan für das Leben hat. Manche sind Spätzünder, andere ihrem Alter voraus. Aber keiner von ihnen ist in der Lage, die Entscheidung für die weiterführende Schule zu überschauen. „Eltern, die nicht so viel Verantwortung auf die Schultern der Schüler legen, helfen ihren Kindern sehr“, sagt Heike Stark nach unserem Besuch, „sie sollten die Entscheidung gemeinsam mit uns Lehrern treffen.“ Und wenn der Notenschnitt von 2,33 oder 2,66 nicht erreicht wird? „Dann stehen dem Kind trotzdem viele Wege offen, sein Leben anspruchsvoll zu gestalten. Auch ein Studium ist noch möglich.“ Warum fürchten sich Eltern vor der Urteilskraft der Lehrer? Warum versuchen sie, den Lehrern bessere Noten für ihr eigenes Kind zu entlocken? Glauben sie, dass Lehrer Entwicklungen blockieren oder ihren Kindern schaden wollen? In einigen Bundesländern haben Eltern das Recht, die Schulwahl allein zu treffen. Stellt das sicher, dass sie im Sinne der Kinder entscheiden? Oder besteht nicht auch die Gefahr, dass sie mögliche eigene Zukunftsängste auf die Kinder übertragen? Lehrer sind täglich mit den Kindern viele Stunden lang zusammen. Manchmal sehen sie Talente oder Def izite, die selbst engagierte Eltern nicht erkennen. Wie eng das Band zwischen Lehrern und Schülern sein kann, brachte in unserem Gespräch eine Schülerin der 4b mit diesen zauberhaften Worten auf den Punkt: „Ich wünsche mir, dass meine neue Lehrerin nicht gleich enttäuscht von mir ist, wenn ich am Anfang noch manchmal Frau Stark zu ihr sage.“ Vertrauen wir den Lehrern. Und was noch wichtiger ist: Vertrauen wir darauf, dass unsere Kinder ihren Weg finden werden – früher oder später. Ihren Übertritt haben die Kids der 4b jedenfalls schon ganz gut gemeistert. Vier Wochen nach Entgegennahme der Zeugnisse ist die ganze Spannung passé.