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Es war einmal  eine junge Frau aus Nymphenburg auf Wohnungssuche in Neuhausen. Sie hatte dort einen spannenden neuen Job gefunden und suchte nun ein hübsches Zuhause für sich und ihren Liebsten. Prächtige Hanfpflanzen wollte sie in den eigenen vier Wänden züchten, weil dies im Schlosspark wegen der steigenden Besucherzahl kaum noch ohne Schwund möglich war. Und seit jüngerer Zeit gedachte sie zudem, anstelle eines Kindes jenen jungen Fuchs aufzuziehen, dessen Mutter leider vor Gut Nederling überfahren worden war. Lange schon hatte sie in Zeitungen und Internet-Portalen geforscht, bis ihr Traum während dieses winterlichen Dezembers endlich in greifbare Nähe rückte.

Nun lief sie also bei wildem Schneegestöber mit vor Erwartung geröteten Wangen im Vinzenzviertel herum, der Heimat jener lebendigen Straße, in der sie gleich als einzige Bewerberin, die vorab alle Hürden genommen hatte, eine bezahlbare Vierzimmerwohnung im gut erhaltenen Altbau – samt kleinem Küchenbalkon – würde besichtigen dürfen. Das kleine Füchslein blieb vorsichtshalber in der Handtasche versteckt. Dass sie die Hausnummer der Immobilie nicht notiert und nun vergessen hatte, bereitete ihr keine Sorgen, denn mit dem Foto auf dem Smartphone würde sie ihr neues Heim schnell und sicher identifizieren, dachte sie. Aber leider war es wie verhext: Das Haus blieb unauffindbar. Sieben Male bereits war sie jede Straßenseite zwischen Maxvorstadt und Löhe-Haus abgelaufen, ohne je Erfolg zu haben. Keine Eingangstür, keine Wohnung, keine Besichtigung. Traurig und fast schon verzweifelt stand sie irgendwann nah am Mittleren Ring, wo sie gebeutelt vom Lärm der vorbeirauschenden Autos und schier atemlos von den hohen Feinstaubwerten in der Luft schließlich jeden Zukunftsplan verlor, den Job in den Wind schrieb, den geliebten Freund mit deftigen Worten vergraulte – und das erwartungsvolle Jungtier, ohne ihm in die Augen zu schauen, hinter das nächste Hoftor verbannte.

Dreizehn Jahre später – das Leben der Frau hatte neue Wendungen genommen und sie nach Moosach geführt – wollte es das Schicksal, dass sie ein weiteres Mal ins winterlich verschneite Neuhausen aufbrach: Heute würde das neue LocalLIFE-Museum in der Blutenburgstraße eröffnet werden – und sie sollte aus Gründen, über die sie nur våge Vermutungen anstellen konnte, die rückblickende Gastrednerin sein. Da sie ein wenig zu früh aufgebrochen war, stieg sie bereits am Rotkreuzplatz aus der U-Bahn aus. Sie verließ das mittlerweile neongelb glänzend gekachelte Sperrengeschoss und schlug draußen den Weg Richtung Innenstadt ein: Sarcletti, Brillenhaus Högl, Hofpfisterei – und bei der nächsten Gelegenheit rechts in die Straße hinein. Konzentriert ging sie die einzelnen Passagen ihrer Rede noch einmal in Gedanken durch. 2008, das Gründungsjahr von LocalLIFE, lag eine kleine Ewigkeit zurück, aber sie konnte sich noch sehr genau an den Artikel über das feine und vorzügliche Restaurant GourVin erinnern, an einen Beitrag über Eisenwaren Josef Forster am Rotkreuzplatz, wo Nägel noch einzeln erhältlich waren, an das blutige Porträt der Metzgerei Moser …

WAS IST DAS DENN, BITTE?!!!, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Da steht ja DAS HAUS, das seinerzeit verschwunden war! Vier Zimmer, Altbau, Tiere nach Rücksprache erlaubt. Hex, hex, ein Wunder war geschehen in dieser Straße, deren Namen sie wie ein Mantra im Hinterkopf behalten hatte, aber die irgendwie doch jetzt eine andere zu sein schien. Langsam verstand sie mehr: Es gab auch auf dieser Seite des autobahnähnlichen Rings eine Blutenburgstraße … oder handelte es sich womöglich gar um nur eine einzige, einst brutal zerschnittene Straße? War dies etwa damals geschehen, als die Bauunternehmer wegen der Olympischen Sommerspiele zu Wühlmäusen wurden und Beton für den wichtigsten Werkstoff ihrer Zunft hielten? Noch während sie ihre dunklen Erinnerungen neu zusammenpuzzelte, zuckte sie erneut zusammen: WO IST DIE BREITE STRASSENSCHNEISE DENN GEBLIEBEN? Schnell analysierte sie die Lage noch gründlicher und murmelte dann vor sich hin: „Gerade dachte ich noch, dass es heute weniger stark nach Autos riecht und dass weniger Lärm herrscht, weil VW, Porsche und Audi seinerzeit bei der Abgasmogelei ertappt wurden und so den Weg für Elektroautos freigemacht haben. Aber das ist offenbar nur die halbe Wahrheit. WELCH EIN WAHNSINN, SIE HABEN DEN AUTOSTROM UNTER DIE ERDE GELEGT!“

Landshuter-Alle6Projektskizze Landshuter Allee Tunnel “Rossius Variante“

Vieles hatte sich verändert: Die Menschen bummelten und radelten trotz der wirklich kalten Temperaturen die durch Bebauung und Bepflanzung wieder zugänglich gewordene Landsberger Allee entlang, ja sie querten sie sogar gänzlich unbekümmert, weil sie weder Unter- noch Überführung mehr brauchten, um auf die andere Straßenseite zu gelangen. Entspannt ließen sie ihre mit natürlich tierleidfreien Bommelmützen und veganen Stiefelchen in UGG-Boot-Optik kuschelig warm gekleideten Kinder frei herumlaufen, während sie selbst die Programmaushänge des MAXIM-Kinos und die weihnachtlich leuchtenden Schaufenster der umliegenden Geschäfte studierte. Sie kehrten im Mütter- und Väterzentrum ein, ratschten mit den Nachbarn oder trafen sich im beliebten Allee-Café, das nach Jahrzehnten des Protestschlafs heute nach einem höchst modernen Konzept betrieben wurde. Dazu zählten nicht nur eine demokratische FabLab-Werkstatt mit Repair-Service und das täglich um die Mittagszeit stattfindende fröhliche Dementen-Bingo unter fachkundiger Anleitung, sondern auch eine Schreibwerkstatt und eine Dauerausstellung von Neuhauser Bürgern mit syrischem Migrationshintergrund: Unter dem Thema „Heimat verloren, Heimat gefunden“ stellten sie Bilder flüchtender Deutscher in der Nachkriegszeit Bildern flüchtender Syrer während des Krieges gegenüber, um eindrucksvoll über den schmalen Grat zwischen Zivilisation und Barbarei zu informieren.

Während nun die Frau, die in einer Stunde würde ihre Rede halten müssen, gemütlich in den jetzt gleich zu erkennenden, gegenüberliegenden Teil der Blutenburgstraße hineinschlenderte, sinnierte sie darüber, ob wohl auch weitere Straßen wie die Volkartstraße und die Dom-Pedro-Straße eine so wunderbare Wiedervereinigung würden feiern können. Als Erzähler dieser Geschichte wissen wir natürlich, was genau sich in den letzten Jahren zugetragen hat: Der große Autofluss zwischen Hirschbergstraße und Dachauer Straße war tatsächlich nach zähem Ringen um die beste Lösung unter der Erde verschwunden und gab attraktive Flächen für Menschen, Wohnungen, Spielplätze und Grünanlagen frei. Für den lokalen Autoverkehr verblieb lediglich eine Spur – genug, um darauf Dinge zu erledigen, für die ein Auto unverzichtbar ist. Irgendwann waren auch Green City, der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club, die Grünen und weitere Verbände, die zunächst dagegen gesprochen hatten, weil sie das Geld lieber in Busse, Bahnen und Radwege investieren wollten, von dem neuen Tunnel überzeugt, sodass die engagierten Bürger endlich gemeinsam Gehör fanden.

Details wie diese erfuhr die Frau selbst erst später, nach ihrem gelungenen Vortrag im LocalLIFE-Museum, der den zahlreich geladenen Gästen vielfältiges Schmunzeln entlockte und die ein oder andere wehmütige Erinnerung hervorzurufen verstand. Bei einem Glas guten Broeding-Weins, leckeren Häppchen mit Hanf-Pesto und Grünkohl-Chips sowie gegrillten Heuschrecken für jene Besucher, die auf tierische Proteine noch nicht ganz verzichten mögen, erhielt sie zu guter Letzt auch die Antwort auf ihre Frage, warum ausgerechnet sie aufwendig im gesamten Stadtgebiet gesucht, gefunden und schließlich als einzige Rednerin eingeladen worden war.

Eine LocalLIFE-Redakteurin, die die gescheiterte Wohnungssuche damals auf wundersame Weise mitbekommen hatte, träumte schon seit längerem von einer späten Entschädigung für jene Frau, der es durch fast schon tragisch zu nennende Umstände verwehrt geblieben war, nach Neuhausen zu ziehen. Sie sprach mit der Verlagsleitung und überzeugte diese schnell. Man kam überein, die Eröffnung des LocalLIFE-Museums, die mit dem 20-jährigen Bestehen des Magazins zusammenfiel, zu nutzen, um der Moosacherin eine kleine Wohnung im Turm des Museums zu schenken.

Die Frau war von der außergewöhnlichen Nachricht, die ihr beim zweiten Glas Wein zu Ohren kam, sehr berührt. Erneut griff sie zum Mikrofon. „Nicht ich habe dieses Geschenk verdient“, sagte sie mit fester Stimme, „sondern ihr: all die Anwohner, die jahrelang für ein menschlicheres Viertel gekämpft haben, Blumenzwiebeln in die kleinen Beete zwischen den Autos steckten und ein verwaistes Fuchskind erst großzogen und dann auswilderten. Ihr habt die Stadtplaner in langen Gesprächen davon überzeugt, weder Tore noch Brücken noch seelenlose Häuser zu bauen. Ihr habt es geschafft, im Rahmen eines Wettbewerbs innovative und kreative Architekten zu finden, die bezahlbaren Wohnraum für ganz normale Menschen bereitstellen und dabei auch noch an die Umwelt denken.“

Mit diesen Worten vermachte sie das ihr als Person zugedachte Geschenk – noch bevor die offizielle Übergabe hatte stattfinden können – der ebenfalls anwesenden Bürgerinitiative für den Tunnelbau. Diese wiederum lehnte es ebenfalls ab, weil sie ihren Auftrag ja bereits erledigt habe und keine weiteren Räume benötige. Die LocalLIFE-Macher schauten verdattert hin und her, weil das wertvolle Geschenk so gar keinen Besitzer finden wollte.

Irgendwann allerdings kamen alle Anwesenden überein, das Türmchen, das traumhafte Ausblicke bis hin zu den Alpen (und auch zum Rotkreuzplatz) gewährte, in eine bis in die frühen Morgenstunden hinein geöffnete Bürger-Bar zu verwandeln. Bereits an Silvester ließen sie dort die Korken knallen. Der greise Fuchs saß mit seiner Familie unten im Garten und bellte dankbar hinauf. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.Landshuter-Alle5