Mitten unter uns wohnt in Neuhausen ein Schriftsteller, der sich selbst als „ewiger Geheimtipp“ bezeichnet – und herzlich über diese Etikettierung lacht. Ernst Augustin. Der 86-Jährige hat viele renommierte Preise gewonnen: 1962 den Hermann-Hesse-Preis, 1989 den Kleist-Preis, 2009 den Literaturpreis der Stadt München und 2013 den Preis „Von Autoren für Autoren“. Das ist nur eine Auswahl. Trotzdem kennen viele Menschen Augustin nicht. Wir haben mit dem Schriftsteller, der seit einem medizinischen Kunstfehler 2009 nahezu blind ist, über sein Werk und sein Leben gesprochen. Beeindruckend, wie jung und lebendig, wie humorvoll und souverän seine Erzählungen sind!
Vom Arzt zum Schriftsteller. Ernst Augustin ist in vielen Welten zu Hause
Afghanistan im Jahre 1958: Der 31-jährige Arzt Ernst Augustin, der bis vor kurzem an der Ostberliner Charité als Facharzt für Neurologie und Psychiatrie gearbeitet und dann beschlossen hatte, sein Leben in der DDR hinter sich zu lassen, war vor kurzem in einem kleinen Hospital des schönen Landes angekommen, etwa 80 Kilometer von Kandahar entfernt. Dort würde er nun die Leitung des Hauses übernehmen. Der Einsatz begann – so erzählt es uns Augus tin – dramatisch: Die Frau eines Ministers stand kurz vor der Entbindung, das Kind lag in Steißlage und der scheidende Klinikchef wollte es sich nicht nehmen lassen, dem prominenten Nachwuchs persönlich auf die Welt zu helfen. So verordnete er tüchtig Wehenmittel, um die Sache anzukurbeln, aber es tat sich nichts. Zwei Tage lang saß der nicht gerade auf Entbindungen spezialisierte junge Arzt Augustin bei der leidenden Frau. „Die Hebammen heulten nur noch“, erzählt er uns, und ihm blieb nichts, als das Warten zu nutzen, um sich per Fachliteratur weiterzubilden. Schließlich fand er ein Mittel, mit dem sich Wehen stoppen lassen, und verabreichte es. Die Ministergattin hatte Zeit gewonnen, um ihren Körper nach einwöchiger Erholung im eigenen Tempo gebären zulassen. Und er, der junge Klinikchef, war angekommen in diesem kleinen Hospital, wo eine offene Rinne die Räume miteinander verband und dafür sorgte, dass der flüssige Abfall seinen Weg nach draußen fand. Die Sonne hatte den Sand noch weißer erscheinen lassen und die Felsen in Schokoladenfarben getaucht. Ja, das Leben sei recht einfach gewesen, aber das habe ihm, dem Arzt aus dem Osten, der nie große Ansprüche zu stellen gelernt hatte, kein Problem bereitet. Immerhin sei es ihm, was das Wichtigste gewesen sei, gelungen, ganz ohne Visum ein neues Leben zu beginnen.
Das Schreiben als Gegenwelt
Nun saß er also in der Wüste Afghanistans. Drei Jahre lang verdiente er dort sein Geld und begann damit, sich Geschichten auszudenken und sie schriftlich aufzuzeichnen, weil nicht alle Tage große Aufgaben auf ihn warteten. „Da können Sie nur schreiben“, erklärt Ernst Augustin, „sofern Sie – wie ich – immer etwas Schöpferisches machen müssen.“ Zunächst habe er ja an Filme gedacht, erläutert er, und wir stellen uns gleich atemberaubende Bilder von verzweifelten Hebammen auf den Gängen des vielleicht grün getünchten Hospitals am Fuße der Schokofelsen vor. Aber dafür brauche man Kameraleute und Geld. Nur das Schreiben habe er frei und unabhängig betreiben können. 1961 war schließlich „Der Kopf“ fertig. Offiziell ist das sein Erstlingswerk. Ernst Augustin verrät uns, dass es einen Vorgänger gab, den er aber nicht gut genug fand, um ihn jemandem anzubieten.
Geburtshilfe von Hans Magnus Enzensberger
In einem mitternachtsblauen Mercedes mit Weißwandreifen ist Ernst Augustin 1961 von Lübeck in sein neues deutsches Leben aufgebrochen. Er reiste gen Süden, mochte den ein oder anderen Ort durchaus gern, aber nur in München strahlte der blaue Himmel, und „es war eine richtige Stadt“. Hier fand er mit seiner Frau Inge den deutschen Heimatort, den er nach all seinen vielen Reisen auch später immer wieder ansteuern würde. Gleich in den ersten Wochen machte er sich auf die Suche nach einem Verleger für „Der Kopf“ – und wurde beim PIPER Verlag in Schwabing fündig. Dort war man begeistert von dem Buch: ein Glücksfall für beide Seiten. Beim Hamburger Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL hatte Hans Magnus Enzensberger erst vor kurzem eine regelmäßig erscheinende Literaturseite bekommen, um junge deutsche Autoren vorzustellen. Über Augustins Buch schrieb er unter anderen diese Worte: „Es handelt sich also um einen phantastischen Roman ersten Ranges. Verwickelt, aber nicht langweilig; abenteuerlich, aber nicht dumm: ‚Der Kopf’ ist ein vierhundert Seiten langer, kunstvoll verzargter Alptraum in drei Abteilungen.“ Und: „‚Der Kopf’ ist Entwicklungsroman und Utopie, Abenteuergeschichte und Humoreske, expressionistisches Labyrinth und Robinsonade, dies alles zwischen zwei Buchdeckeln: Der bodenlose Scherz sucht in unserer Literatur seinesgleichen.“ Immerhin 3.000 Exemplare wurden damals verkauft. Reich wurde niemand davon. Aber schon 1962 erhielt Ernst Augustin den Hermann-Hesse-Preis, der im Jahr zuvor erstmals – an zwar an Martin Walser – vergeben worden war. Zweimal traf der Nachwuchsautor mit der Gruppe 47 zusammen. Aber er fühlte sich der Szene zu wenig zugehörig und ging dann nicht mehr hin.
Die Psyche als literarisches
Untersuchungsobjekt
Der Roman „Raumlicht: Der Fall Evelyne B.“ erschien 1976. Er erzählt von einem Arzt, der über Indien nach Afghanistan geht, und ist eins der populärsten Bücher Augustins. „Ich erzähle die Geschichte einer Heilung“, erklärt uns der Autor, „die ich dem Leser entlang von vielen optischen Bildern näherbringe“. Damals in Ostberlin hatte Augustin als Facharzt viele Erfahrungen mit psychisch kranken Menschen gesammelt und so überrascht es nicht, dass dieses Buch auch autobiographische Züge trägt. Die Titelheldin leidet unter Schizophrenie. „Sie kann geheilt werden, weil diese Krankheit nicht wirklich eine Krankheit ist“, erklärt uns Augustin, „sondern die Panik vor Erkenntnis schlechthin“. Schizophrenie sei, anders ausgedrückt, nichts als die Angst vor der Existenz. Oh ja, die Evelyn B. würde er auch heute noch zur Lektüre empfehlen, sagt er auf die Frage, welches Werk wir seinen Nachbarn besonders ans Herz legen dürfen. Und er erheitert uns mit der Bemerkung, dass das 1996 erschienene Buch „Gutes Geld“ nicht zu seinen Favoriten zähle. „Nur die Russen lieben es“, erzählt er schmunzelnd, er habe bei einer Lesung erlebt, wie sie unter den Tischen gelegen haben vor Lachen, weil sie die Übersetzung der von ihm formulierten pseudorussischen Konversation so komisch fanden.
Erzählen ist eine besondere
Kunst
Es gibt nicht viele gute Erzähler in Deutschland. Das ist in der Literaturszene bekannt und häufig beklagt worden. Menschen, die einfach gut unterhalten, eine spannende Geschichte erzählen, überraschen, Personen in ihrer unglaublichen Entwicklung zeigen gibt es selten. Ernst Augus-tin sinniert darüber, warum die Angelsachsen das so viel besser können. Mit 86 Jahren hat er nun viel Zeit, sich tiefer und tiefer in Literatur hineinzuhören und manches neu zu bewerten – die Blindenbibliothek versorgt ihn ständig mit neuem Stoff. Thomas Manns Joseph-Tetralogie höre er heute viel intensiver als früher, sagt er über das zwischen 1926 und 1943 entstandene Werk des bürgerlichen Schriftstellers, der ihm neben Kafka immer gut gefallen hat. „Aber wenn Sie genau hinhören, macht Thomas Mann den Fehler, dass er zu viel erklärt. Manchmal hat er sogar etwas Schulmeisterliches, etwa wenn er den Leser rügt, nicht richtig zu lesen.“ Richtig gut erzählen könne im Übrigen Emile Zola, der Franzose, dessen Buch „Der Totschläger“ er uns zur Lektüre empfehle. Lion Feuchtwangers „Erfolg“ gefalle ihm auch, das sei nun einmal der beste München-Roman. „Und von den eigenen Werken? Welches ist Ihr Favorit?“ „Ich liebe ‚Mahmud der Bastard’! Diese Geschichte ist mir wirklich gut gelungen. Auch sie spielt in Afghanistan. Eigentlich wollte ich alles ganz anders anlegen, aber die Figuren haben sich während des Schreibens selbstständig gemacht.“ „Ist das schlimm für einen Schriftsteller?“ „Nein, das passiert während des Schreibens und macht den Reiz der Sache aus. Schreiben ist eine wundervolle Droge. Der Lohn liegt in der Sache selbst.“
Was bleibt? Was kommt?
Ob es ihn schmerze, heute nicht die Popularität beispielsweise eines Walser zu haben, wollen wir nun doch noch wissen. „Nein“, sagt Ernst Augustin, und seine Stimme drückt aus, dass er es genau so meint. „Heute kommen die vordergründigen Themen besser an, politische und soziologische beispielsweise. Auf lange Sicht gesehen wird sich erst noch herausstellen müssen, ob diese Werke bleiben.“ Er wirkt gelassen und wirkt vollkommen autonom. Moden interessieren ihn nicht, wohl aber der Mensch und seine Geschichten. Aktuell schreibt der 86-Jährige – aus Spaß wie er sagt – noch seinen „persönlichen Felix Krull“. Das Schriftstellern ist ein mühsamer Prozess für jemanden, der die Buchstaben kaum noch sehen kann. Aber es ist auch ein Lebenselixier für einen über so viele Grenzen hinweg denkenden Erzähler, der mit der Sprache sinnliche Welten zu zeichnen vermag. Wir freuen uns darauf, irgendwann zu den ersten Lesern dieses neuen OEuvres zu gehören.
Viele Buchtitel wurden von Ernst Augustin Frau, Inge Augustin, gestaltet