Alt sein ist ein Tabu. Alt werden immer nur die anderen. „Ich selbst werde einfach umfallen und gut isses.“ Dass das Leben noch eine letzte Phase bereit- hält, die – wie die Kindheit oder die Jugend – nach ganz eigenen Gesetzen verläuft, ist eine schwierige Wahrheit. Früher oder später ist aber jeder dabei – sofern er nicht zuvor verstorben ist.
„Wenn junge Menschen zum ersten Mal hier reinkommen, dann ist das oft irritierend für sie“, sagt Thomas Ziller, der Hausleiter des völlig neu renovierten Hauses Heilig Geist am Dom-Pedro-Platz. Das ist ein Pflegeheim, das größte in Neuhausen, für 227 Bewohner. Im Moment liegt das Durchschnittsalter der Bewohner bei 85 Jahren. Drei Personen sind schon über 100 Jahre alt. Ja, es ist eine Wucht zu sehen, welche Erschwernisse das Alter mit sich bringen kann. Wer – was heute fast der Normalfall ist – in einer kleinen Familie groß geworden ist oder das Elternhaus nach der Ausbildung verlassen hat, hat selten hilfsbedürftige Omas, Opas, Großtanten oder einfach alte Nachbarn erlebt. „Aber schon nach wenigen Begegnungen fangen die Jugendlichen an, in unseren Bewohnern das Individuum zu erkennen“, bringt Thomas Ziller seinen Gedanken schnell zum erfreulichen Abschluss. Dann ist es für sie möglich, den Männern und Frauen mit den Rollatoren und Rollstühlen ins Gesicht zu sehen, sie offen zu grüßen und wenn die Zeit es zulässt, auch einfach mal anzusprechen und nachzufragen. Jeder Mensch will wahrgenommen werden. Oft lernen wir erst in späteren Lebensjahren, dass sich ältere Menschen in diesem Punkt nicht im Geringsten von anderen unterscheiden.
Gefühle sind erlaubt
Auch Babys sind faltig und zahnlos, sie können noch nicht selber essen, ihr Lätzchen ist sehr schnell verschmiert. Ihr Verstand liegt in den ersten Monaten deutlich unter dem intellektuellen Vermögen so mancher Tierart. Aber wir finden sie süß. Niemand käme auf die Idee, zum Beispiel alte Demente, die in einer anderen Wirklichkeit angekommen sind, niedlich zu finden. Schade eigentlich. Der Film „Vergiss mein nicht“, in dem ein junger Regisseur die letzten Jahre seiner dementen Mutter dokumentiert, zeigt sehr genau, wie viel Heiterkeit noch möglich ist. Gut, die Mutter bringt Mann und Sohn durcheinander. Aber sie lacht und fühlt wie eh und je. Der bezaubernde Roman „Der alte König in seinem Exil“ von Arno Geiger erzählt von den Besuchen eines Sohnes bei seinem Vater, der jeden Weltbezug verloren hat. Der Sohn stellt sich auf das Machbare ein und kann sich schließlich über die wunderbar sinnlosen, aber poetischen Sätze des Vaters freuen.
Pfleger, die lächeln können
Im Haus Heilig Geist leben nur Bewohner, die auf pflegerische Unterstützung angewiesen sind. Ein Teil ist dement, andere haben körperliche Gebrechen, manche leiden an beidem. 160 Mitarbeiter beschäftigt das Haus insgesamt. Davon sind 120 Personen – auf 100 Vollzeitstellen – rein pflegerisch tätig. Wie in einer Großstadt zu erwarten, kommen mehr als die Hälfte der Pfleger längst aus aller Herren Länder. Man verdient nicht besonders viel in diesem Beruf, der körperlich und seelisch fordert, bei dem Nachtdienste ebenso selbstverständlich sind wie der Umgang mit Schmerzen und Tod. Oft sind es aber gerade Personen aus nicht vertrauten Ländern, die es schaffen, den Alten ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern, einfach nur deshalb, weil sie ihr eigenes Herz für sie öffnen.
Neue Wege gehen
Das Haus Heilig Geist gehört zur Münchenstift GmbH, die viele Alten- und Pflegeheime in der Stadt betreibt. Natürlich werden dort die Bedürfnisse älterer Menschen seit vielen Jahren immer wieder reflektiert. Und selbstverständlich gibt es auch Jahr für Jahr Verbesserungen. Wir leben in einer alternden Gesellschaft, in der das Geld und der politische Wille vorhanden sind, das Alter einfach ein wenig angenehmer zu gestalten. Thomas Ziller erzählt uns vom Drei-Welten-Modell für Demenzkranke, das im Haus Heilig Geist (und sonst nur in zwei weiteren Münchner Einrichtungen) nach einem Schweizer Modell umgesetzt wird. Seit dem aufwändigen Umbau zwischen 2006 und 2009 des im Jahre 1907 eingeweihten Hauses sind zahlreiche Räume im ersten Stock genau dafür eingerichtet worden.
Die Grundannahme ist die, dass demenzkranke Menschen drei verschiedene Erlebniswelten durchlaufen. In der ersten Phase brauchen sie feste, aber abwechslungsreiche Abläufe, um wieder Erfolgserlebnisse zu haben. Wenn sie zunehmend zielloser werden, brauchen sie besonders viel Toleranz in ihrer Umgebung und Angebote, ihren Bewegungsdrang im möglichen Rahmen auszuleben. In der dritten Phase schließlich betreten sie eine Welt der Schutzlosigkeit. Sie sind schnell von der Außenwelt überfordert. Ideal sind leise und langsame Aktivierungen und beruhigende Maßnahmen.
Thomas Ziller zeigt uns die Pflege-Oase im Haus Heilig Geist, den Ort für schwerstdemente Menschen in der dritten Erlebniswelt. 15 Personen leben hier im ersten Stock zusammen. Sie wohnen in Einzelzimmern (wo auch die körperliche Grundversorgung stattfindet), werden aber tagsüber in den Oasenraum gebracht, wo sie in der Gemeinschaft leben. Sie liegen im eigenen Bett oder sie ruhen im kleineren Cosy-Chair. Es gibt ein Klangbett, das sich zur Musik bewegt, Farbenspiele, Duftanregungen und Massagen. Natürlich kann auch hier jeder seine Vorlieben ausleben. Es ist die Arbeit der Pfleger, die Bedürfnisse der Bewohner vor allem durch Beobachten genau zu verstehen. Spätestens in dieser dritten Welt findet Kommunikation nicht mehr mit dem Kopf, sondern in erster Linie über Gefühle statt. Die Pfleger erhalten einschlägige Fortbildungen, können kritische Situationen deeskalieren und haben sogar eine Idee davon, sich mit Menschen, die nicht mehr sprechen können, über das Thema Sterben zu verständigen – sofern Bedarf besteht.
Von den Nöten daheim
Wir können uns vorstellen, dass spätestens jetzt einige unserer Leserinnen und Leser allein von der Wucht des Themas erschlagen sind und innerlich aufschreien. Ein Pflegeheim? Nein! Wir fragen zurück: Warum nicht? Zwar haben wir alle gelernt, dass Liebe und Zuwendung nur im privaten Familienkreis gedeihen können. Aber es schadet ja nicht, das einmal gründlich zu hinterfragen. Viele Menschen, die hier einzogen, lebten vermutlich seit Jahren allein. Oft wurde noch ein Partner gepflegt, dann blieben die Kräfte aus. Oder sie haben Angehörige, die in fernen Städten leben oder aus anderen Gründen selbst keine Rundumbetreuung leisten können. Wo gibt es Nachbarn, die einmal täglich einkaufen würden? An welcher Tür könnte klingeln, wer tagsüber plötzliche Übelkeit verspürt? Wem könnte man zehnmal am Tag die immer gleiche Geschichte erzählen, in welchem Haus könnte man laut schreien, wenn einen die Ängste der Kindheit wieder einholen?
Da geht noch mehr
Der Aufenthalt in einem modernen Heim stellt weit mehr als die medizinische und pflegerische Betreuung sicher. Die Menschen essen regelmäßig. Sie sind ordentlich gekleidet und frisiert – nicht um der Nachbarn willen, sondern um sich selbst wieder ernst zu nehmen. Sie erhalten ihre Körperfunktionen durch Training, lernen vielleicht sogar erstmals im Leben neue Dinge in einer Gymnastik dazu. Im Haus Heilig Geist findet beispielsweise ein Kraft-Balance-Training statt – zweimal die Woche, mit Gewichten an Armen und Beinen. Mehr noch: Die Bewohner werden sogar entsprechend ihrer Interessen und Fähigkeiten unterhalten. Sie musizieren oder sie malen gemeinsam mit einer Kunsttherapeutin. Vor allem aber sind sie wieder unter Menschen. Sie können, soweit dies möglich ist, miteinander reden, miteinander fühlen. Es soll auch immer wieder vorkommen, dass sich alte Menschen noch einmal verlieben. Dass sie nach Jahren der Einsamkeit und Grübelei und Depression wieder singen und sich an den Händen fassen. Natürlich müssen sie selbst eine Portion Offenheit mitbringen. Aber das war schon während ihres gesamten Lebens von Vorteil.
Immer wieder genesen Menschen in einem Heim, weil die Qualen, die sie zuvor erlitten hatten, gar keine altersbedingten waren. Einsamkeit und Mutlosigkeit können wieder vergehen, manchmal sogar ohne den Einsatz von Medikamenten. Wer diesen Sprung noch einmal schafft, nimmt das Pflegeheim als neues Zuhause an und genießt die Freiheiten, die ihm noch möglich sind: In den Garten gehen, den Rotkreuzplatz besuchen. Thomas Ziller erzählt uns von einwöchigen Ausflugsfahrten, bei denen pro Bewohner/-in eine Pflegeperson mitfahren darf. Und er erzählt von einer Bewohnerin, die von einer Pflegekraft nachts auf den Balkon zum Rauchen begleitet wird.
Die Zigarette wird von der Pflegekraft gehalten – weil der Bewohner zwar noch rauchen, aber die Zigarette nicht mehr halten kann.
Mauern einreißen?
Niemand muss warten, bis ihn das Alter wie ein Schicksalsschlag ereilt. Man kann vorher die Augen öffnen und Ängsten ins Gesicht sehen – bei aller Wucht des Themas. Man kann im Haus Heilig Geist in die helle und lichte Caféteria des denkmalgeschützten Gebäudes gehen und als Gast ein warmes Essen zu sich nehmen. Man kann sich die Ausstellungen der von Bewohnern gemalten Bilder anschauen und dabei feststellen, dass sie die gleichen Kunst- und Lebensfragen haben wie wir. Und man kann bei der Mitarbeiterin des Hauses Heilig Geist vorstellig werden, deren Job es ist, ehrenamtliche Mitarbeiter sinnvoll zu beschäftigen.