Das Wort „Tante-Emma-Laden“ kennen die meisten Menschen noch … irgendwie … man hat eine Idee davon. Aber wer erinnert sich noch genau an die vielfältigen sinnlichen Eindrücke, die der Tante-Emma-Laden in uns wachruft? Es gibt eine Gelegenheit, diese Erfahrung aufzufrischen– oder womöglich gar zum ersten Mal zu machen: in der Heideckstraße 9, im Lädchen von Maria und Max Schmehl.
Der Tante Emma zugeschrieben wird von jeher der kleine inhabergeführte Laden gleich ums Eck, in dem man neben vielem anderen schnell das Tütchen Backpulver holt, das beim Kuchenbacken fehlt, einen Sahnebecher, wenn Gäste kommen oder frische Petersilie, wenn die alte eingetrocknet ist. Man geht kurz vors Haus, holt, was man braucht, ratscht mit den Nachbarn und kehrt wieder heim. Seit den 70er-Jahren verschwinden diese kleinen Nahversorger-Läden, es gibt nur noch wenige Exemplare. Woran es liegt? Die großen Discounter locken mit Tiefstpreisen. Riesige Einkaufscenter werben mit Vielfalt, Parkplätzen und Kinderunterhaltung. Der Großeinkauf der Familie wird bevorzugt mit dem Auto erledigt. Fachverkäufer gelten als zu teurer Luxus. Und: Wer will noch darauf warten, bedient zu werden? Zeit scheint knapper geworden zu sein.
Heute bedienen wir uns selbst. Wir holen das zigfach verpackte Essen aus schmutzigen Kartons, stapeln es im riesigen Einkaufswagen, den wir schweigend ausladen und eiligst bezahlen. Spätestens dann, wenn wir alle un-
sere Waren dann selbst scannen, wird der enorme Wandel im Einzelhandel auf den Punkt gebracht: Wir Menschen sind Rädchen des effizienten Verkaufsprozesses geworden. Nützliche Idioten im Getriebe einer gnadenlosen Warenumsatzmaschinerie.
Was dabei alles auf der Strecke geblieben ist, macht der Besuch bei Familie Schmehl deutlich. Sie betreibt einen kleinen, feinen Laden in der Nähe des Goethe-Instituts, der zwei einladende Torbögen und die Anmutung eines Kaufladens hat. Wir werden mit großer Herzlichkeit von Max und Maria empfangen. Die beiden führen ihr Geschäft seit 38 Jahren. Sie haben es von den Eltern übernommen, die es nach dem Krieg als Molkereiproduktgeschäft gegründet hatten. Damals wurde die Dickmilch selbst gemacht, der Sauerrahm ebenfalls, und sonntags hatte der Laden von 8 bis 10 Uhr geöffnet. Das wollte der Gesetzgeber so, weil kleine Kinder frische Milch bekommen sollten und Privathaushalte selten über die angemessene Kühlung verfügten.
Heute verkaufen die Schmehls auch Obst und Wurst, Tabak- und Drogeriewaren. Brandts Zwiebacktüten lachen uns an, ein feines Schmelzkäsesortiment, Eiskonfekt, eine große Auswahl frischer Kräuter, ein Schüsselchen Feigen, ein Kistchen Erdbeeren, die Avocado, der Blumenkohl, drei Kartoffelsorten. Jede Dose, jede Flasche, jede Packung wurde sorgfältig ins saubere Regal gestellt. Keine Massen gibt es, sondern Einzelstücke – liebevoll präsentiert zwischen frischen Blumensträußen und jahreszeitlich passender Dekoration. Die Schmehls kaufen täglich ein und ersetzen sofort, was fehlt. Schließlich sollen die Kunden auch wegen der Frische in den Laden kommen. Die Krönung des Sortiments sind hausgemachte Pro-dukte: Maria, die strahlende Chefin mit den roten Bäckchen, steht nicht nur gerne im Laden, sondern auch in der Küche. Dort backt sie Käsekuchen, Himbeersahnetorte und Reiberdatschi, formt Semmelknödel und Pflanzerl, brät Schnitzel und macht Salate an. Über der Theke steht das Motto: „Unsere Ware läuft nicht vom Band, sie wird produziert mit Herz und Hand.“
Das Zubereiten, Einkaufen, Einräumen und das Verkaufen führen allein schon zu einem langen Arbeitstag: Die Schmehls stehen gegen 4.30 Uhr auf – und arbeiten bis 21 Uhr. Dazu kommen aber noch ganz andere Aufgaben. Sie liefern ins Haus, hören zu und sie schreiben an. Sie sind nämlich nicht nur Kaufleute, sondern auch gute Menschen, Psychologen und Banker (der alten Art). Genau das zeigt erst das charakteristische Element eines Tante-Emma-Ladens: für die Kunden, für die Menschen da zu sein.
Es gab Zeiten, in denen die Kunden schon ab Mitte des Monats haben anschreiben lassen. Erst am Monatsende wurde gezahlt. Das ist heute zum Glück nicht mehr so häufig der Fall, aber es kommt vor. Auch dass Kunden von sich und ihren Sorgen erzählen, gibt es heute wie anno dazumal. Zum Beispiel präsentieren manche Schulkinder ihre Zeugnisse erst den Schmehls, bevor sie sie den Eltern in die Hand drücken. Überhaupt die Kinder: Hier lernen sie, einzukaufen. Frau Schmehl erzählt mit Freude vom Kindergartenkind, das neulich mit Einkaufszettel hereinkam, während die Mutter draußen vor dem Laden warten musste. Was die Tochter einkaufen sollte, hatten sie zuvor als Gedächtnisstütze gezeichnet: vier Brezen, sechs Äpfel und mehr.
Auch das Liefern hat bei den Schmehls eine persönliche Note. Der Laden betreibt nämlich keinen klassischen Lieferservice. Wenn jemand meint, per Anruf eine Kiste Bier, und das sofort, ordern zu können, hat er das Prinzip nicht verstanden. „Vor allem für unsere älteren und langjährigen Kunden bieten wir vielfältigsten Service an“, sagt Max Schmehl, und er erklärt uns, dass die nicht mehr ganz so mobile ältere Dame, wenn sie anruft und um ein Paket Kaffee bittet, keinesfalls erwartet, dass er alles andere stehen und liegen lässt, um direkt zu ihr hinaufzuspringen. Aber selbstverständlich bekommt sie die Ware, sobald es sich ergibt. Vielleicht nimmt er sogar den Müll mit runter. Die jungen Kunden haben andere Wünsche. Bei ihnen pressiert’s eher mal, sie ordern telefonisch und holen die vorbereitete Einkaufstasche dann abends ab. Längst ist man auch auf deren andere Bedürfnisse eingestellt: Sojamilch und laktosefreie Milchprodukte zum Beispiel sind ständig vorrätig. Sonderwünsche werden zum nächsten Einkauf erfüllt.
Wie es mit diesem Tante-Emma-Laden weitergeht? Noch ist es nicht so weit, eine Antwort zu geben. Fakt ist, dass sich die Gesellschaft wieder auf den Wert dieser kleinen Läden, die viel mehr leisten, als nur zu verkaufen, besinnt. Längst wissen Stadtplaner und Gemeinden, dass es ein Wahnsinn ist, ganze Dörfer und Stadtviertel ohne „Nahversorger“ allein zu lassen. In einigen Orten Deutschlands betreiben sogar schon öffentliche Einrichtungen wieder Tante-Emma-Läden, um die Standortqualität und vor allem die Lebensqualität der Bevölkerung zu verbessern. Es reicht eben nicht, den Menschen auf dem Weg ein Frühstück „to go“ in die Hand zu drücken und sie dann mit Papp-Müll allein weiterziehen zu lassen. Vielmehr geht es um eine Heimat – für immer mehr heimatlose Menschen. Das heißt dann miteinander reden, sich vertrauen und Geborgenheit geben.
Wenn die Schmehls jetzt in der Vorweihnachtszeit nicht nur stimmungsvoll dekorieren, sondern auch für die Blinden in der Merianstraße Apfelbrot und Lebkuchen backen, wird es wieder duften wie anno dazumal. Dann wird der Maria-und-Max-Laden ein paar Wochen lang fast schon ein Maria-und-Josef-Laden sein. Es liegt an uns, den Verbrauchern, den Wert solcher Oasen zu erhalten. Marktforscher machen einen Trend aus: Das inhabergeführte Fachgeschäft erlebt eine Auferstehung. Regionalisierung liegt im Trend. Und weniger (Konsum, Müll, Hektik, Zeitdruck) ist wieder mehr (Lebensfreude).
Wir wünschen Ihnen eine
stilvolle Weihnachtszeit!
Ein zauberhafter Tante-Emma-Laden, der altmodisch anmutet und dennoch in die Zukunft weist!