Anton spricht Antonisch. Sein Freund Jeremy, ein blitzgescheiter Junge und genau wie Anton sieben Jahre alt, hat den Begriff erfunden und stolz erklärt, er sei einer der wenigen, die diese seltene Sprache verstehen könnten.
Aber perfekt Antonisch reden – kann nur Anton.
Anton ruft: „Papa pie!“, und dann spielen wir. Er lacht und sagt: „No-ma!“, und wir spielen noch mal. Jeden Morgen, wenn er aufwacht, lächelt er und sagt: „Moin!“ und dann ruft er meistens „Eier Milch!“, was Antonisch ist für den Wunsch, dass es zum Frühstück doch bitte Arme Ritter zu geben habe, mit viel Sirup obendrauf und noch mehr Puderzucker. Und ist sein Teller leer, fordert Anton: „No-ma!“
Wenn Antons Freund Paul zu Besuch ist, dann verschwinden die beiden in Antons Zimmer, und durch die geschlossene Tür höre ich sie plappern. Als Paul neulich von seiner Mutter abgeholt wurde, sagte er beim Anziehen: „Also manchmal weiß ich nicht so richtig, was Anton da sagt.“ Paul versteht schon ein bisschen Antonisch, er lernt noch. „Bis morgen im Kindergarten“, sagt Paul. „Tschau Pau“, antwortet Anton und winkt. Und als sein Freund weg ist und ich ihn frage, ob sie Spaß gehabt hätten, ruft Anton: „Ja! No-ma!“ Das Leben mit Anton ist ein außergewöhnliches Leben. Es begann in einer eisigen Nacht einen Tag vor Heiligabend mit der Diagnose Down-Syndrom. Da war Anton zehn Minuten alt. Für ein paar Stunden fühlte ich mich wie im freien Fall. Svenja fing mich auf – und unser Leben mit Anton begann.
Ich erinnere mich noch genau, wie ich als Teenager mit Freunden über die Zukunft sprach, und einer sagte: „Stell dir mal vor, du kriegst ein behindertes Kind. Dann ist dein Leben aber vorbei, Alter.“ Und ich weiß noch, wie ich nickte und so etwas wie „Echt, ey“ gemurmelt habe. Teenager halt.
Als Svenja mir eines Tages mitteilte, wir würden einen Jungen bekommen, da schmiedete ich Pläne: Wenn er fünf Jahre alt wäre, würde er – so wie ich einst im selben Alter – zum ersten Mal mit ins Volksparkstadion kommen. Ich würde ihm zeigen, warum Kinos besser sind als Fernseher. Ich würde mit ihm Deutsch und Englisch und ein bisschen Mathe üben, was man so braucht fürs Leben. Ich würde ihn zum Training fahren und sonntags bei seinen Punktspielen zuschauen. Später würde ich ihm die Platten, die Bücher, die Filme zeigen, die mich auf dem Weg ins Erwachsensein begleitet haben. Und mit ihm darüber reden.
Es läuft nicht immer alles so, wie man es sich zurechtlegt.
In den ersten Wochen nach Antons Geburt gab es diese Pläne erst einmal nicht mehr. Stattdessen sah ich zu, wie mein Sohn im Alter von vier Tagen seine erste Physiotherapiestunde bekam – und wir die Diagnose, dass Anton organisch gesund sei. Nur eben geistig und körperlich behindert. Entwicklungsverzögert. Niemand könne voraussagen, wie schnell er was wird lernen können. Und was vielleicht nie. Was er früh konnte und besser kann als alle Kinder, die ich kenne, ist: fröhlich sein.
Ich habe es mir abgewöhnt, mich aufzuregen, wenn ich irgendwo lese, dieses oder jenes Kind „leide am Down-Syndrom“. Anton jedenfalls leidet höchstens unter den Umständen, unter denen er als behindertes Kind in Deutschland aufwächst. An der Bürokratie, dem Auseinandersetzen mit der Krankenversicherung, an der fehlenden Selbstverständlichkeit bei der Förderung von Behinderten. Das macht auch uns den Alltag schwer: Anträge, Absagen, Einsprüche, Fristen, Gutachten, noch mehr Gutachten. Für Ergotherapie, Physiotherapie, Logopädie. Eine beantragte Sprachheiltherapie wurde von der Rentenversicherung mit der Begründung abgelehnt, dass bei unserem sieben Jahre alten Sohn „leider von keiner positiven Erwerbsprognose auf dem ersten Arbeitsmarkt“ auszugehen sei. Es ist häufig ein verdammter Kampf.
Und wenn Freunde von uns trotzdem sagen, es sähe so leicht aus, so entspannt, unser Leben mit Anton, dann denke ich: Das ist nett, aber täuscht euch nicht.
Denn natürlich gibt es sie, diese Momente. Wenn ich auf dem Spielplatz sehe, wie Anton Dinge versucht, die Dreijährige wie selbstverständlich können. Einmal vorgemacht – sofort nachgemacht. Für Anton gilt: Vormachen, Vormachen, Vormachen. Und ihm gut zureden, wenn er sauer ist, weil er es beim ersten Mal eben nicht nachmachen kann. Und auch noch nicht beim zehnten Mal. Das Klettern, das Schaukeln, das Fußball-ins-Tor-Schießen.
Das Leben mit Anton ist ein Geduldsspiel. Im Großen wie im Kleinen. Wir müssen Geduld haben, bis Anton neben Antonisch auch noch gut verständliches Deutsch spricht. Oder bis er einen Ball fangen kann. Und wir müssen Geduld haben, wenn Anton sich abends aus-, und seinen Schlafanzug anzieht. Er hat sein Tempo, und wir haben unseres angepasst. Es gibt Schlimmeres.
Und so spaziere ich mit Anton durch Hamburg. Immer etwas langsamer als die anderen, weil Anton hier stehen bleibt und dort, um sich ganz lange eine Blume anzuschauen oder um mit der Akribie eines Bombenentschärfers den Schnee von einem parkenden Auto zu wischen. Auf unseren Spaziergängen treffen wir Menschen, die etwas irritiert erst Anton lange angucken und dann mich. Aber das passiert eher selten. Die meisten sehen Anton mit seinen mandelförmigen Augen hinter der Brille, die er in der Regel trägt. Und lächeln. Und Anton winkt und sagt „Moin“ und geht weiter, bis er irgendwas entdeckt, das ihn interessiert. Mit anderen Menschen in Kontakt kommen ist für Anton ein Klacks.
Ein kleines Mädchen hat sich in Argentinien ein bisschen in ihn verliebt und ihm zum Abschied eine Muschel und einen Kuss geschenkt. Und er hat im New Yorker Central Park mit einem Jungen, der River hieß, Fangen gespielt. Ihm helfen seine Gesten, wenn er mit Worten nicht weiterkommt.
Im Sommer kommt er in die Schule. Weil, Anton, du bis ja schon … „grooo“, ruft er und zeigt an die Zimmerdecke. Er kann seinen Namen schreiben und seinen Namen lesen und bis vier zählen. Er schlägt mich in Uno (wenn er ein gutes Blatt hat), und er hat mit mir im Volksparkstadion einen Sieg gesehen. Endstand: „Ein-Nuu!“
Wie jedes Kind es tut, hat auch Anton das Leben seiner Eltern bereichert. Vieles ist gleich geblieben. Auf dem Weg des Lebens scheint die Sonne genauso oft wie zuvor, sind die Bäume am Wegesrand nicht weniger grün; nur, dass der Weg, seit Anton ihn mitgeht, immer leicht bergauf führt. Er ist für uns alle einfach etwas anstrengender zu gehen.
Es ist ein Leben des sich immer wieder Prüfens: Fördern wir Anton genug? Fördern wir ihn vielleicht zu viel und überfordern ihn? Muss ich jeden Abend nach der Arbeit noch mit ihm spielen oder ihm ein Buch vorlesen? Oder kann ich auch mal einfach nur gute Nacht sagen? Ihn sonntagvormittags sich selbst überlassen in seinem Kinderzimmer?
Es ist ein Leben zwischen Schuldgefühlen und Stolz. Wahrscheinlich etwas mehr als bei Eltern mit einem normalen Kind, was immer das heißt.
Als ich Anton einmal fragte, was er später werden wolle, antwortete er nur „Häh?“ und ging weiter. Er deckt gern Tische, serviert gern Essen, gräbt gern Pflanzen ein. Kellner, Gärtner – schöne Berufe. Was wir uns wünschen, dass er wird: selbstständig. Halbwegs unabhängig. Zufrieden, so wie es ist. Er ist da auf einem guten Weg.
Vielleicht gibt es Kinder wie Anton bald nicht mehr. Vielleicht sterben sie langsam aus, weil die Untersuchung von ein paar Tropfen Blut der Mutter sie noch weit vor ihrer Geburt verraten. Vielleicht.
Inzwischen fühle ich mich in gewisser Weise privilegiert, Vater von Anton zu sein. Er hat mich nicht zu einem besseren Menschen gemacht, aber er öffnet mir die Augen für das, was wichtig ist. Zeit haben, sich Zeit nehmen. Zeit miteinander verbringen. Sich über kleine Erfolge freuen. Mit Rückschlägen umgehen. Geduld haben. Und Lachen. Toben. Reden, auch mal auf Antons Art. Auf Antonisch.
Svenja und ich sprechen das inzwischen ganz passabel.