Inspiriert von der Stürmung der Hausbesetzung in der Rigaer 94 in Berlin stellt Christian Schmitz-Linnartz mit seiner Geschichte um den Polizisten Leonhard die Frage, wie weit Gehorsam und Pflichterfüllung gehen darf. Das Schreiben begann für den Mann aus Kiefersfelden im Inntal mit Plattenkritiken, die er allgemeingültiger und nicht nur für eine elitäre Klientel formulieren wollte.
Nachdem er vor vier Jahren seinen Job am Theater verloren hatte, war das Schreiben von Kurzgeschichten eine Möglichkeit für ihn, diese Situation zu verarbeiten. Er begann auch mit einem Buch – das noch auf seine Fertigstellung wartet. Zu seinem Schreibstil sagt Christian: „Wenn ich Sachen schreiben, die nicht humorvoll oder gesellschaftskritisch sind, bin ich düster und fatalistisch.“ Dabei mag er das Düstere in seinen Texten auch sehr. Er bezeichnet diesen Stil als „Korrelationismus“: eine vermeintlich kleine Ursache mündet fast in der Intensität einer massiven Gewalttat. Seine Stories trägt er gern auf Poetry Slams und Lesebühnen vor: „Man kann hier gut testen, wie die Sachen ankommen.“ Christian hatte schon zwei Wohnungen in Neuhausen, ist aber inzwischen nach Schwabing abgewandert – wo es ja auch ganz schön sein soll, wie man hört.
Kontakt über: http://www.schmitz-linnartz.de
LEONHARD
Leonhard mochte seinen Dienst bei der Bereitschaftspolizei; seine Eltern als Alt-68er waren nicht sehr angetan davon, aber für ihn war es ein guter Job. Er brauchte sich um körperliche Fitness nicht zu sorgen und half zum Beispiel dabei, Drogenhändler dingfest zu machen, also Heroindealer. Wenn in seinem Umfeld Freunde oder Bekannte kifften, schaute er weg. Zwar nervte ihn dieses Gekiffe, weil auch seine Eltern immer betonen mussten, dass er in einer Nacht gezeugt worden war, in der sie viel Gras geraucht hatten, aber dennoch war er realitätsbewusst genug, um zu wissen, dass die einzige Gefahr, die von Kiffern ausging, die verbaler Schwerfälligkeit war.
So kam er im Gegensatz zu seinen meisten Kollegen auch in den Genuss, auf Parties eingeladen zu werden, die sich von der Freizeitgestaltung der meisten Polizisten abhoben; und hin und wieder waren solche Parties richtig gut, denn bekiffte Frauen küssen mal so gar nicht schlecht.
Aber zurück zum Thema: Drogendealer sind nur eine Gattung Mensch, die er überführen darf; er war dabei bei dem großen Coup, als sie einen Mädchenhändlerring aushoben.
Seitdem haben auch seine Eltern ein gutes Argument gegenüber ihren Freunden, dass der Sohn was Ordentliches macht.
Leonhard war an jenem besagten Tag auf „Stand-by“,wie es inzwischen auch im Polizeideutsch heißt.
Eigentlich hat er kein Problem mit Stand-by, weil er in all den Jahren erst einmal reinmusste auf’s Revier; aber er hat ein Problem mit Stand-By, wenn er am See sitzt bei 31 Grad und Sonnenschein und sein verdammtes Handy klingelt und ihn auf’s Revier zitiert, also an jenem Tag hatte Leonhard ein Problem mit Stand-by. Die Strecke auf’s Revier legte er in verdammt schnellen 20 Minuten zurück.
Dennoch hatte er die Einsatzbesprechung verpasst und sein Einsatzleiter trieb ihn zur Eile. Er konnte sich gerade noch in seinen Overall schmeißen, seine Pistole aus der Waffenkammer holen und das übliche Gedöns anlegen.
Auch noch eine Wasserflasche konnte er klarmachen, bevor er in den Mannschaftstransporter stieg. Er hatte die Tür noch nicht ganz zu, da gab der Fahrer schon Gas.
„Was liegt an?“ fragte er in die Runde.
„Besetztes Haus räumen!“ antwortete Hannes nicht minder unterkühlt.
„Hoffentlich treffe ich nicht auf Freunde von Mum oder Dad, das gäb‘ Ärger daheim“, dachte Leonhard bei sich.
Bei dem Gedanken musste er schmunzeln. Es war natürlich Quatsch, denn einerseits sind Leonhard und seine Kollegen vermummt und nicht zu erkennen, andererseits hatten seine Mutter als Physiotherapeutin und sein Vater als Gymnasiallehrer keine Kontakte mehr in die autonome Szene und beide waren bürgerlicher, als sie es sich je eingestehen wollen würden.
Und dennoch stellten seine Eltern gern klar, wo ihre Sympathien lagen: Er hatte einmal versucht, ihnen von einer Räumung eines besetzten Hauses zu erzählen, von den sichergestellten Molotowcocktails und anderem gefährlichen Gerät, aber sein Vater winkte nur ab und sagte: „Mein Sohn, ich lieb Dich, aber tu mir einen Gefallen und rede nur über Deine Arbeit, wenn ich mich nicht für Dich schämen muss.“
Das hatte gesessen. Leonhard hatte fürderhin geschwiegen über seine Einsätze.
Während Leonhard noch sinnierte, klatschte Hannes ihm seine Splitterschutzweste ins Gesicht.
„Die haste vergessen“, raunzte er ihn an, spaßeshalber.
Hannes hatte ein ähnliches Elternhaus wie Leonhard und ähnliche Ansichten. Das verband die zwei und hatte sie zu Freunden gemacht.
Sie kamen an dem Haus an. Hannes hatte Leonhard informiert, dass die Gefahr von Gegengewalt mit Stufe eins als sehr niedrig eingestuft wurde, also stiegen sie eher gemächlich vom Wagen. Das, was nun folgte, war Routine und ging dann doch sehr schnell. Und trotz des Adrenalins, welches Leonhard in Einsätzen immer in die Adern schoß, nahm er wahr, dass dieses Haus anders war als die Häuser, die sie sonst stürmten. Es gab keine Hasschmierereien an den Wänden, sondern wenn etwas von den Wänden prankte, waren es farbenfrohe teilweise kunstvolle Graffitis.
Auch hatte weder vor noch im Haus irgendwer Barrikaden aufgebaut, also waren sie schnell im dritten Stock. Die Wohnung ganz links war ihnen zugeteilt worden.
Als sich Leonhard als Truppführer gerade gegen die nicht allzu robust wirkende Holztür stemmen wollte, schien jemand im Inneren durch das Poltern im Flur alarmiert worden zu sein und diese ging auf.
Leonhard konnte gerade noch bremsen, um nicht in die ihm gegenüber erscheinende Frau in Batikhose zu rumpeln.Die Frau war bildschön, barfuß und hatte einen Blick, der pures Ensetzen widerspiegelte.
Leonhard wäre fast ein „Guten Tag“ aus dem Mund entfleucht, aber er konnte sich noch zurückhalten. Er atmete tief durch und erinnerte sich an die Worte seiner Ausbilder, die da hießen „Stärke beweisen“.
Also huschten er und die anderen drei seines Trupps wortlos an der Frau vorbei in das Zimmer, welches er als das Größte ausgemacht hatte. In diesem saßen zwei Männer, eine weitere Frau und drei Kinder unter zehn Jahren in der Mitte um einen kleinen Tisch, auf dem sich etwas wie Thaicurry befand. Das Essen roch wunderbar. An den Wänden lagen vier Matratzen und Leonhard mutmaßte, dass eine der zwei Familien wohl hier wohnen müsse.
Das Entsetzen der anderen Mienen war nicht minder groß und dennoch entfuhr einem der Männer
wohl eher in Trance als bewußt die Frage: „Wollt Ihr vielleicht einen Teller mitessen?“
Aus dem Mund seines Kollegen Simon, des überambitionierten Neulings der Einheit, gerade frisch von der Polizeischule gekommen, hörte er den folgenden kühl vorgetragenen Satz: „Bitte alle auf den Bauch legen und Hände über dem Rücken verschränken.“
Spätestens jetzt wusste Leonhard, dass er an dem falschesten Ort war, an dem er sich zu diesem Zeitpunkt befinden könnte.
Wie im Affekt stieß er Simon mit dem Gewehrkolben in die Magengegend und verließ die Wohnung und das Haus. Manche Kollegen im Treppenhaus transportierten gerade Menschen ab, die genau so gefährlich aussahen wie diejenigen, in deren Wohnung Leonhard vorher war; und Leonhard meinte an den Augen seiner Kollegen erkennen zu können, dass sie genauso ratlos waren ob der Situation.
Er manövrierte sich wortlos auf die Straße. Seine Schutzweste belastete ihn und er nahm sie ab. Die Hecktür des Mannschaftstransporters war offen und er pfefferte die Weste da hinein.
„Lenny“ hörte er Hannes von hinten rufen.
„Das hier ist es nicht, wofür ich stehe!“ antwortete er und drehte sich kurz um. „Komm, Hannes, gehen wir ein Bier trinken.“
Leonhard drehte sich um und ging weiter. Er meinte, Hannes‘ Schritte hinter sich zu hören, und musste lächeln.