„Wir fühlen uns hier sehr wohl – ich bin in Neuhausen zur Welt gekommen und wohne inzwischen auch in Neuhausen“, erklärt die Geschäftsführerin Eva Strauß. „Und ich habe hier im Viertel meine Grundschuljahre verbracht“, fügt die zweite Geschäftsführerin Carola Mörtl hinzu. Beide arbeiten für den Verein, der seit über 25 Jahren spezielle Stadtführungen in München anbietet.
Wie alles begann
Heute kaum mehr vorstellbar: Vor 25 oder 30 Jahren erzählten Stadtführer am liebsten vom gemütlichen Millionendorf München und zeigten nur die schönen Seiten der Stadt. Dass München Spuren seiner braunen Vergangenheit im Stadtbild hatte, wurde damals von den offiziellen, vom städtischen Tourismusamt geschulten Stadtführern fein verschwiegen.
Es war in den 1980er-Jahren die Zeit der Geschichtswerkstätten, die das Motto „Grabe, wo du stehst“ ausgerufen hatten. Zeitgleich wurde in vielen Foren auch über „sanften“, sozial- und umweltverträglichen Tourismus diskutiert. Auch in München suchten angehende Geographen, Pädagogen und Touristiker nach Alternativen. Der Geograph, Denkmalpfleger und Gründungsmitglied Gerhard Ongyerth erzählt: „Wir kamen aus verschiedenen Richtungen, hatten Erfahrungen mit Schulklassen und Senioren und wollten nicht nur für die Teilnehmer, sondern mit ihnen die eigene Stadt erkunden. Das damalige Tourismusamt hat die schwierigen Themen, München als „Hauptstadt der Bewegung“, bei uns abgeladen. Wir haben diesen Auftrag angenommen, weil uns der kritische Blick wichtig war und ist. Trotzdem lieben wir unsere Stadt – wir wollen sie mit allen Sinnen erlebbar machen, haben deshalb von Beginn an mit didaktischen Methoden experimentiert und sie eingesetzt, haben zum Beispiel Chips verteilt, wenn es um den Hightechstandort München ging.“
Vorbild für die jungen Münchner war Stattreisen Berlin, und Treffen von engagierten Historikern, Geographen und Touristikern führten 1989 zu einer Gründungswelle: Stattreisen entstand in Hamburg, Münster, Köln, Hannover und München. Heute stehen die Stattreisen-Organisationen in engem Kontakt zueinander und tauschen sich im Dachverband Forum Neue Städtetouren aus.
Die Münchner und Münchnerinnen werden als Touristen in der eigenen Stadt angesprochen. Sie werden nicht mit Jahreszahlen abgespeist, sondern die Zusammenhänge und Hintergründe von Entwicklungen werden an den verschiedenen Stationen einer Führung erklärt. Anhand von historischen Fotografien und Stadtplänen werden die Veränderungen in der Stadt gezeigt. Stattreisen machte es sich von Beginn an zur Aufgabe, auch scheinbar unbequeme Themen in den Mittelpunkt von Stadtführungen zu stellen. Stattreisen war der erste Veranstalter, der eine Führung zum jüdischen Leben in München in das Programm nahm. Diese Art neuer Stadtführungen sprach sehr viele Münchner und Münchnerinnen an. Später kamen Touren zu Muslimen, Migranten, Sinti und Roma hinzu. Neue Stadtführer und Stadtführerinnen brachten immer wieder neue Ideen und Führungen in den Verein. Es sind inzwischen über hundert verschiedene Touren entstanden – und ein Ende ist nicht abzusehen.
Neben den thematischen Führungen engagierte Stattreisen sich immer auch in den unterschiedlichen Stadtvierteln mit einem Angebot an Touren, meist ausgearbeitet von Stadtführern und Stadtführerinnen aus dem jeweiligen Stadtviertel. Auch in Neuhausen und in Gern bietet der Verein schon seit vielen Jahren jeweils einen Stadtteilspaziergang an. Und in Nymphenburg zählen selbstverständlich das Schloss, der Park und seine Parkburgen zum klassischen Repertoire. Nicht zuletzt wegen dieses breiten Ansatzes unterstützt das Kulturreferat der Stadt München die Aktivitäten von Stattreisen München.
Stattreiser unterwegs
Stadtführungen sind aber auch unterhaltsam, so gehören Stadtsagen zu klassischen Führungen oder das gemeinsame Raten, ob eine Geschichte oder ein Ereignis tatsächlich wahr oder gut gelogen ist. Die Gruppen selbst wiederum können Stadtführerinnen erheitern und den Anekdotenschatz bereichern.
Die Stadtführerin Petra Wucher weiß eine Geschichte, die viel mit fremden Menschen und Trachten zu tun hat: „Eines frühen Morgens habe ich eine Gruppe junger asiatischer Geschäftsleute im Café Frischhut abgeholt. Sie waren in der Früh in München gelandet und sind gleich mit dem Bus zum Frühstücken ins Café Frischhut. Unsere erste Station war der Viktualienmarkt. Die Sonne schien, der Markt bot sich den Besuchern in seiner ganzen Farbenpracht. Da durchzuckte leichte Panik alle meine 20 Gäste: Sie hatten ihre Fotokameras im Bus vergessen! Der war aber schon weg, er wurde dennoch zurückbeordert und dann durchwühlten alle 20 mitten auf der Straße ihre Koffer auf der Suche nach ihren Fotoapparaten. Fassungslos blickte der Busfahrer auf das Kofferchaos auf der Straße: „Oh mei, jetzt packen die alle ihre Koffer auf der Straße aus!“ Endlich hatte jeder seine Kamera. Es konnte losgehen. Da lief ein Schotte im Kilt über die Straße – an diesem Tag spielte der FC Bayern in der Champions League gegen Glasgow. Aufgeregt deutete einer meiner Gäste auf den Schotten: „Oh, a Bavarian!“ Glücklicherweise konnte ich in einem nahe gelegenen Trachtengeschäft den Unterschied zwischen einem Schottenrock und einer Lederhosen erklären.“