Morgens im Nymphenburger Schlosspark. Sie läuft vor mir und ich vergesse staunend fast das Schnaufen: blond und hager und wild entschlossen. Ihre Beine winkelt sie an den Knien ab – nach außen, nicht nach vorn. Sie schleudert die Waden mit Schwung zur Seite, als würde sie für einen Gastauftritt im Marionettentheater proben. Ist es das, was die Fachliteratur als „Fersenlauf“ bezeichnet? Eine Nebenwirkung der Silikon-Gel-Dämpfung mit Frischluftzufuhr und Proteinbar in ihren Laufschuhen? Eine effektive Methode, um im optimalen Fettverbrennungsbereich zu bleiben? Ich weiß es nicht. Aber sie kommt gut voran, schneller als ich.
Ja, auch ich laufe. Fast täglich, jeden zweiten Tag sozusagen, mindestens aber einmal die Woche. Und surfe damit auf der Welle des Zeitgeists. Ich hatte von Anfang an keine Chance, mich im Alleingang gegen die joggenden Stimmen zu stemmen, die mir rhythmisch ins Ohr keuchten: Lauf, Forrest, lauf! Lauf dem Alter davon, den Zigaretten und den Folgen des Alkoholkonsums! Es kam mir vor, als empfing ich eine gigantische mentale Kettenmail, die ich auf keinen Fall unbeantwortet lassen durfte, wollte ich nicht, dass freie Radikale Orgien in meinem Bindegewebe feiern und die Möbel aus dem Fenster schmeißen.
In meiner naiven Vorstellung war Laufen einfach: Man zieht Turnschuhe an, geht damit in Wald und Wiese, holt tief Luft – und fängt schlicht an zu laufen. Irgendwann geht einem die Puste aus, und dann bleibt man stehen. Ganz ohne isotonische Drinks, Pulsmesser, Fußachsenwinkelcomputervermessungen und Leibchen, die von Shaolin-Mönchen handgewirkt werden. In meiner Sportlaienwelt flüchtet die Enterprise in den anaeroben Bereich, wenn ein Angriff der Klingonen bevorsteht, und ist unter dem „Energiezugriff auf den Glukosespeicher” der beherzte Griff zum Schokoriegel zu verstehen. Weshalb sollte es auch anders sein?
„Vom Apotheker über den Sportklamottenshop bis hin zum Personal Trainer will jeder einen Cent für jeden Schweißtropfen, der mir von der Nase perlt. Ein kleiner Schritt für mich, ein
großer für die Industrie.“
Dann wurden mir eines Abends beim Ausgehen die Augen geöffnet. Ich stand in einem Club, Bier in der Hand, und versuchte, die von Rauch geschwängerte Luft zu atmen, während ein Mann, der das Durchschnittsalter des Publikums leicht doppelte, über die optimale Ausatmen-Einatmen-Frequenz monologisierte. Seine Erfolgsformel lautete: ausatmen über fünf Schritte, Pauuuuuse, einatmen über drei. Und ich begriff endlich.
Nichts im Leben darf einfach sein. Denn dann kostet es ja nichts. Denn dann fehlt das Problembewusstsein, das unsere Konsumgesellschaft am Laufen hält. Vom Apotheker über den Sportklamottenshop bis hin zum Personal Trainer will jeder einen Cent für jeden Schweißtropfen, der mir von der Nase perlt. Ein kleiner Schritt für mich, ein großer für die Industrie. Existenzielle Fragen werden nicht in intellektueller Runde diskutiert, sondern auf Joggerpfaden im Kampf Mensch gegen Muskel gelebt. Vor mir läuft ein gesunder Geist in einem gesunden Körper, hinter mir hechelt die Vergänglichkeit und durchpflügt mit ihrer Sense den Waldboden. Irgendwo im Biergarten am Rand ruft Churchill fröhlich „No Sports!“, während er den Qualm seiner Zigarre einsam sinnierenden Romantikern ins Gesicht pustet. Der Boden vor mir atmet wie das Meer, und eben überlege ich noch, ob ich versehentlich Drogen konsumiert oder zu oft „Fear and Loathing in Las Vegas“ gesehen habe, als der Himmel sich plötzlich verdunkelt und Adidas-Trikots herabregnen. Die hagere Blonde wird von einem Rudel wilder Hunde verfolgt, die nur spielen wollen, und knockt mit jedem seitlichen Schlenker einen von ihnen treffsicher aus. Mein Pulsmesser schnürt mir die Lunge zu, und das Gewicht meiner Jogginghose zieht mich unwiderstehlich zu Boden …
Ich wache auf, schweißgebadet wie sonst nur nach dem Lauf. Ein Blick auf die Uhr: Es ist Zeit. Aufstehen, anziehen und dann raus auf den Waldweg. In Laufschuhen.
Martina Pahr