Was ein Waisenhaus ist? Weiß doch jeder: ein Haus für Kinder ohne Eltern. Waisenhäuser, das sind Einrichtungen, die spendenfreudige Prominente gern unterstützen. Oft liegen sie irgendwo in Afrika, weil dort besonders viele Kinder ihre Eltern durch AIDS oder durch Krieg verloren haben … Wir besuchen Ursula Köpnick-Luber, die Leiterin des Münchner Waisenhauses, und lernen eine nach modernsten pädagogischen Standards geführte Institution von innen kennen.
LocalLIFE: Welche Kinder leben im Münchner Waisenhaus? Haben sie alle ihre Eltern verloren?
Ursula Köpnick-Luber: Das ist eher selten der Fall. Wenn heute ein Kind – beispielsweise durch einen tragischen Unfall – seine Eltern verliert, wird es mit großer Wahrscheinlichkeit von Verwandten aufgenommen. Dagegen gibt es eine zunehmende Zahl von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die Probleme haben oder machen, dauerhaft in schwierigen Lebenslagen und Familiensituationen aufwachsen oder in akuten Krisen stecken.
LocalLIFE: Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Ursula Köpnick-Luber: Zu uns kommen Babys, deren Eltern süchtig sind. Oder stellen Sie sich ein Geschwisterpaar vor, dessen alleinerziehende Mutter psychisch schwer erkrankt und sich für eine Weile in klinische Behandlung begeben muss. Denken Sie an minderjährige Flüchtlinge, die durch Kriegserfahrungen in ihrem Heimatland traumatisiert sind. Solche Kinder finden bei uns quasi ein zweites Zuhause.
LocalLIFE: Wie viele Kinder leben aktuell im Waisenhaus? Wie lange bleiben sie bei Ihnen?
Ursula Köpnick-Luber: Wir bieten 130 Kindern und Jugendlichen Platz. Nicht alle wohnen hier im Waisenhaus. Wir sind sehr stolz auf unsere beiden Außenwohngruppen in Einfamilienhäusern an den Standorten Laim und Forstenried. Dort leben jeweils acht Kinder wie eine Familie zusammen. Weitere zehn Jugendliche über 16 Jahren wohnen in Apartments der Waisenhausstiftung. Nun zu Ihrer Frage nach der Aufenthaltsdauer: Ein Drittel der Kinder und Jugendlichen wird maximal ein halbes Jahr behandelt und betreut. Ein Drittel bleibt rund ein Jahr. Ein Drittel verbringt einen längeren Zeitraum bei uns.
LocalLIFE: Kann man Kindern mit solch problematischen Ausgangssituationen in dieser relativ kurzen Zeit wirklich helfen?
Ursula Köpnick-Luber: Man kann sehr viel tun. Neben der heilpädagogischen und psychologischen Behandlung geben der überschaubare Tagesablauf und die Spielregeln der Wohngruppe den Kindern Orientierung. Die Verknüpfung von Alltag, Pädagogik und Therapie hilft bei der Bewältigung der schmerzhaften Erlebnisse und zeigt neue Verhaltensweisen auf. Wir versuchen, wann immer möglich, Kinder in ihre Familien zurückzugeben. Das geschieht natürlich nie, ohne dass sich Verhältnisse grundlegend verbessert haben.
LocalLIFE: Was nicht allein in Ihren Händen liegt …
Ursula Köpnick-Luber: Stimmt!
Auch wenn wir uns in erster Linie als Anwalt der Kinder verstehen, arbeiten wir intensiv mit ihren Eltern. So kümmern wir uns um regelmäßige Besuchskontakte und führen Elterngespräche. Kinder wollen den Kontakt zu den Eltern halten, sie sind da sehr loyal. Um die Lösung der Probleme in der Familie vor Ort kümmern sich aber andere Instanzen.
LocalLIFE: Wenn man sich im Waisenhaus umschaut, hat man den Eindruck, dass keiner je freiwillig weggehen will. Es herrscht überhaupt keine Heim-atmosphäre, alle Räume sind farbenfroh und liebevoll eingerichtet. Man fühlt sich sofort zu Hause und angenommen. Der riesige Garten draußen ist ein wunderschönes Paradies. Gibt es auch Kinder, die länger bleiben wollen und länger bleiben dürfen?
Ursula Köpnick-Luber: Ja. Dafür haben wir drei heilpädagogische Heimgruppen und die Außenwohngruppen. Dort können Kinder und Jugendliche aufwachsen. Unser Angebot an erzieherischen Hilfen ist breit gefächert, es erfüllt unterschiedliche Bedürfnisse. Wir haben eine Fünf-tagegruppe, in der Kinder leben, die am Wochenende schon auf ihre Rückführung nach Hause vorbereitet werden. Wir haben teilbetreute Gruppen für Jugendliche, und es gibt auch eine ambulante Nachbetreuung für diejenigen, die schon wieder ausgezogen sind.
Wie lang ein Kind bleiben darf, entscheidet letztendlich immer das Jugendamt, das die Kinder zuvor bei uns eingewiesen hat. Ich bin überzeugt davon, dass alle Kinder, egal wie lange sie bei uns wohnen, immer etwas von ihrer Waisenhauszeit mitnehmen. Die einen machen einen Sprung in ihrer sozialen Entwicklung, andere entdecken versteckte Talente. Um jedes Kind bestmöglich zu fördern, ist unser Angebot zur Freizeitgestaltung vielfältig: Sport und Musik spielen eine sehr große Rolle. Es gibt einen Computerraum, der seinen Namen wirklich verdient – und sogar Vorlesestunden, die selbst die Großen lieben.
LocalLIFE: Welche Bedeutung hat es, dass das Waisenhaus zentral in Neuhausen liegt?
Ursula Köpnick-Luber: Eine große! Ich kann mir keine bessere Lage vorstellen. Wir finden ein intaktes Umfeld vor und können den Kindern und Jugendlichen Normalität bieten: Einkaufen auf dem Rotkreuzplatz, Brot aus der Bäckerei holen, Taschengeld im Brauseschwein verprassen. Wir holen den Arzt nicht ins Waisenhaus, sondern gehen zu ihm hin– so wie unsere Kinder und Jugendlichen im Normalfall auch die Schulen vor Ort besuchen. Nur schwer traumatisierte Kinder werden von zwei Lehrkräften der „Staatlichen Schule für Kranke“ direkt im Waisenhaus unterrichtet.
Leider werden wir auf dem Weg der Öffnung nach außen gerade ein wenig gebremst. Unsere Tätigkeit im Kinderschutz bringt es zwangsläufig mit sich, dass wir auch bedroht werden und mit Gewalttätigkeit konfrontiert sind. Erst jüngst wollten Familienangehörige ihre Kinder entgegen gerichtlicher Anordnung hier herausholen. Dankenswerterweise unterstützt uns die hiesige Polizeiinspektion ausgesprochen gut. Wir versuchen, so entspannt wie möglich mit solchen Situationen umzugehen, und bitten die Bürger Neuhausens um Verständnis für unsere Sicherheitsvorkehrungen: Im Interesse aller Bewohner müssen wir die Tore abends und am Wochenende schließen. Das ist wirklich schade.
LocalLIFE: Was können Anwohner tun, um Ihre Arbeit zu unterstützen?
Ursula Köpnick-Luber: Nehmen Sie Kontakt mit uns auf, wenn Sie uns helfen wollen, sei es als Ehrenamtliche [r] oder weil Sie Ausbildungs- oder Praktikumsplätze anbieten. Oder der Klassiker: Spenden. Wir haben, obwohl wir 115 Personen beschäftigen und die Größe eines mittelständischen Dienstleistungsunternehmens besitzen, eine knappe Personaldecke, denn wir sind rund um die Uhr im Einsatz. Mit Spendengeldern kann ich in Notfällen kurzfristig Aushilfspersonal finanzieren. Spenden werden auch für Ferienfahrten, Sport und Spiel, Freizeitunternehmungen, Musikunterricht, schulische Förderung und Unterstützung bei der Ausbildung verwendet. Wir freuen uns auch über kleine Beträge.
Spenden
Landeshauptstadt München
Münchner Waisenhaus
Kontonummer 902 167 147
Stadtsparkasse München
BLZ 701 500 00
Unser Buchtipp
Günther Baumann: Das Münchner Waisenhaus. Chronik 1899–1999. Herausgegeben vom Sozialreferat der Landeshauptstadt München mit Unterstützung der „Waisenhausstiftung München“. Buchendorf Verlag, München 1999