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In der Nymphenburger Straße 96, dort wo noch vor ein paar Jahren ein alter Dachdeckerschuppen stand, lädt heute ein langgezogener Flachbau mit bis ins Detail liebevoll dekorierten Schaufenstern Passanten ein, in einen Laden namens „Mercerie“ einzutreten. Bereits am Gehsteig signalisiert ein außergewöhnliches Wollobjekt, dass sich dort etwas Besonderes verbergen könnte: ein umhäkeltes Fahrrad etwa. Oder der aufmerksamkeitsstarke, von Riesennadeln gestrickte Lappen aus mega­dickem Material. Ein Hinweis auf das kleine Café im Inneren des Lokals schließlich, in dem kleine Köstlichkeiten aus der benachbarten Konditorei Tanpopo angeboten werden, bringt unmissverständlich zum Ausdruck: Schaut herein!

Die Kurzwarenabteilungen der Kaufhäuser haben in der Regel wenig Sex-Appeal: Die Knöpfe sind variantenreich, aber hässlich, die Scheren günstig, aber schwach, die Garne auffällig, aber kaum gut anzufassen … Auch viele Wollgeschäfte laden nicht unbedingt zum genussvollen Verweilen ein. Schade eigentlich, denn längst liegen Stricken und Häkeln – und sogar Sticken – wieder im Trend. Handgearbeitetes individualisiert das kühle, moderne Leben, bringt allein durch die Kraft von Nadeln und gute Materialien Wärme und Liebe ins Spiel.

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Dass es auch ansprechende Läden geben kann, beweist die Mercerie. Mercerie: Das sagen die Schweizer zu Kurzwaren. Der Begriff klingt recht schön und passt hervorragend zu dem einzigartigen Wunderland in der Nymphenburgerstraße, in dem keine Acrylwolle zu haben ist, dafür hochwertige Baumwoll-, Leinen- und Wollgarne, dazu hochwertige Scheren, schmuckvolle Zierbänder und Anleitungen für jedes Niveau. Allein der Raum ist eine Erwähnung wert: Jede Wolle wird anders in Szene gesetzt – in alten Möbeln, die die Inhaberin Sabine Niebler sich auf dem belgischen Trödel zusammengesucht hat. Nur die Ladentheke ist neu, passend zu den modernen Deckenleuchten, die den langen Raum in ein besonderes Flair tauchen.
Überall hängen kleine Strickmodelle, die Lust auf Handarbeit machen. Alte Tischlampen haben ein neues Häubchen bekommen, auch das wuschelige Sofakissen stammt aus eigener Produktion. Und hinten, beim Café, surrt gerade die Haspel mit dem Wollstrang, der soeben vom Wollwickler in ein Knäuel verwandelt wird.

Sabine Niebler ist ausgebildete Handarbeitslehrerin, hat aber nie als solche gearbeitet, sondern in der Modebranche. Trotzdem ist sie genau das mit Leib und Seele. Vielleicht hat sie nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, um schließlich im Jahr 2013 die Mercerie zu eröffnen? „Ich biete Garne an, die es in München gar nicht und in Deutschland wenig gibt“, erzählt Sabine Niebler stolz. Sie kennt die Woll-Szene wie wenig andere und kann genau erklären, warum sie gerne Produkte aus den USA und Japan importiert. Anders als in Deutschland nämlich hat dort die Begeisterung fürs Selbstgewirkte nie nachgelassen, die Qualität der Ausgangsmaterialien wurde kontinuierlich weiterentwickelt. Madelinetosh beispielsweise ist eine Herstellerin der Spitzenklasse, eine Texanerin, die exzellent zu färben versteht und für deren Produkte wegen der großen Nachfrage zuweilen mit vier Monaten Wartezeit zu rechnen ist. Sabine Niebler informiert dann ihre Kunden, wenn es wieder so weit ist und eine neue Charge eintrifft. Sie verkauft auch Wolle aus Edelmerino, die im wieder bewirtschafteten Grasland Patagoniens erzeugt wird, und reines Kaschmir aus der Mongolei, das schon ungefärbt überzeugt. Von welchen Farmen die Produkte stammen, klärt sie mit Sorgfalt ab. Die Wolle australischer Schafe, deren Haut gleich mitgeschoren wurde, kommt ihr ebenso wenig ins Geschäft wie eine Angorawolle, die dem Rupf eines lebendigen Hasen entstammt.

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„Wir verstehen uns nicht nur als Wollgeschäft, sondern als Handarbeitsgeschäft“, erklärt Sabine Niebler im Gespräch. „Jeder unserer Kunden will etwas zustande bringen. Wir helfen ihm dabei. Die einen brauchen nur Material, andere handarbeitliche Grundkenntnisse, die nächsten wollen lernen, wie man ein Designerstück à la Doodler-Mystery-Tuch nachstricken kann.“ Wem sich zu Hause Fragen stellen, der kann jederzeit vorbeischauen und um Hilfe bitten oder sich gleich für einen der vielfältigen Kurse anmelden: Anfänger lernen Stricken und Häkeln, versierte Stricker erproben spezielle Techniken oder trainieren das Verstehen englischer Anleitungen. Aktuell sehr beliebt sind neben Finishing und Konfektionieren auch die Stickkurse von einer japanischen Stickdesignerin. So entsteht eine neue Szene von Strickfreunden aller Altersklassen, die einem coolen Hobby nachgehen und sich gegenseitig anfeuern. Einsteiger beginnen gern mit Schals und wagen sich schon bald darauf an komplexere Stücke heran. Bei den edlen Garnen ist es gar nicht so wichtig, komplizierte Muster mit Zöpfen und vielen Farben zu beherrschen, denn schon das mit Rechts- und Linksmaschen einfach zu strickende Perlmuster kann mit edler Wolle zauberhaft aussehen. Auch Männer zählen übrigens schon längst zu den Fans der Mercerie. „Es gibt eine Gruppe von außerordentlich guten Strickern, das sind richtige Perfektionisten“, verrät Sabine Niebler und strahlt dabei übers ganze Gesicht. Die Zeiten haben sich verändert. Und das ist gut so.

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