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Im Foyer eine winzige Bar, die an ein englisches Pub erinnert, und Cocktails mit Namen wie „Gänsehaut“ oder „Kalte Leiche“ werden serviert. Heiß geliebt und frisch inszeniert präsentiert das Blutenburgtheater als 100. Inszenierung die Aufführung des Agatha-Christie-Evergreens „Mord im Pfarrhaus“. Das Publikum, bunt gemischt aus Jung und Alt, Tatort-Frischlingen und Krimi-Veteranen, ist begeistert. Der wahre Star ist hier das Theater selbst – die erste Kriminalbühne Deutschlands.

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Intendant und Gründer René Siegel-Sorell schmunzelt, wenn er die Anekdoten zum Besten gibt, die sich in mehr als drei Jahrzehnten Theaterleitung zugetragen haben. Mit großem Vergnügen erinnert er sich an ein Kamerateam, das einmal einen Fernsehbericht über das Theater drehte. Damals gab es im Haus noch eine „Theaterkatze“. Der Regisseur des TV-Teams war von ihr begeistert und bat Sorell: „Sagen Sie der Katze, sie soll die Treppe in der Bühnendekoration hinuntergehen, bis zum Kamin und dann weiter bis zur Rampe ganz vorn. Wir filmen das.“
Sorell sagte amüsiert zu dem Tier: „Du hast gehört, was der Herr gesagt hat.“ Er trug sie die Treppe hoch und ließ sie dort los. Und tatsächlich, er wollte es selbst kaum glauben: Die Katze ging graziös die Treppe hinunter bis zum Kamin, schritt dann nach vorn zur Rampe – und machte dann einen großen Satz über die Köpfe des Kamerateams hinweg in den Saal.
Eine andere rasante Geschichte handelt von einer Schauspielerin mittleren Alters, die auf dem Weg zur Aufführung zu schnell fuhr und deshalb von der Polizei angehalten wurde. Da sie schon etwas getrunken hatte, ließ sie es sich nicht nehmen, sich mit den Beamten zu prügeln. Derweil wartete das gesamte Ensemble auf sie, der Intendant sprach immer am Telefon mit der Polizei, die sich überreden ließ, die Schauspielerin schließlich im Theater abzusetzen. Doch statt nun unauffällig durch den Hintereingang zur Garderobe zu schleichen, polterte die Dame durch die Reihen des Publikums und verkündete lautstark, was sich eben zugetragen hatte. Die Vorstellung, die sie danach auf der Bühne gab, war aber trotz des Chaos im Vorfeld eine Bestleistung.

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Letzten Herbst feierte das Blutenburgtheater 30-jähriges Jubiläum. Mit 200 Aufführungen und drei Stücken jährlich kann es sich über eine Auslastung von sagenhaften 92 Prozent freuen. Die Besucher, darunter 3000 Abonnenten, kommen nicht nur aus München und dem Umland nach Neuhausen, sondern reisen aus dem ganzen Land, der Schweiz oder Österreich an. Keine Frage: Das Blutenburgtheater ist eine Institution.
Im schönen Eckgebäude in der Blutenburgstraße 35, benannt nach dem gleichnamigen Jagdschloss, eröffnete 1891 die Gaststätte „Bürgerhof“. 1918 wurde sie vom Kino „Walhalla-Lichtspiele“ abgelöst, das 1960 in Scala umbenannt und elf Jahre später geschlossen wurde. Kurze Zeit beheimatete das Haus eine Diskothek, zwei Jahre lang stand es leer. 1983 übernahm dann das Intendantenpaar René Siegel-Sorell und Anne-Beate Engelke die Räumlichkeit und gründete die Kriminalbühne – und seitdem wird hier gemordet und gemeuchelt, dass es eine wahre Pracht ist. Ausschließlich Kriminalstücke und -komödien kommen zur Aufführung, von Agatha Christie bis Edgar Wallace, von „Gaslicht“ bis zu „Ladykillers“, aber auch Uraufführungen moderner Autoren. Anne-Beate Engelke findet: „Krimis sind zeitlos, da die Emotionen gleich bleiben: Neid, Habgier, Wut – das kann jeder nachvollziehen.“ Und ganz wichtig: Es gibt immer eine Gerechtigkeit – ganz anders als im wahren Leben.
Die Idee zur Krimibühne kam von der begeisterten Krimileserin, die „einfach mal gern in einem Krimi mitgespielt“ hätte. Das Schauspielerehepaar hatte in den 80ern den Traum vom eigenen Theater – aber nur irgendein weiteres den rund 40 Theatern hinzuzufügen, die es seinerzeit in München gab, hätte wenig Sinn gemacht. Also suchten und fanden sie ihre Nische. Unkenrufe wurden laut, es gäbe durch das Fernsehen eine zu große Konkurrenz, um sich mit dieser Idee durchzusetzen. Und tatsächlich wurden die ersten drei Jahre zur echten Bewährungsprobe – aber die beiden hielten durch und wurden dafür belohnt.

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Was das Intendantenpaar antrieb und antreibt, ist die Leidenschaft fürs Theater. Kennengelernt haben sie sich ganz stilgemäß auch auf der Bühne, und zwar 1981 beim Stück „Mein Freund Harvey.“ Eine ältere Kollegin fiel für die dritte Aufführung in der Silvesternacht aus; Sorell schlüpfte für die Frauenrolle in Perücke und Kostüm. Kollegin Engelke half ihm bei der Maske und bleichte seinen Bart, den er partout nicht abnehmen wollte. So funkte es – ein wahrlich bühnenreifer Plot!
Inzwischen ist René Siegel-Sorell seit zehn Jahren im „Unruhestand“, wie er es selbst nennt. Nach wie vor hält der vitale Mitsiebziger gemeinsam mit seiner lebhaften Frau den Theaterbetrieb am Laufen, neuerdings unterstützt von einer Assistentin: Stückauswahl treffen, Lizenzen einholen, Spielplan festlegen, Regisseure suchen, Besetzungen vornehmen, rund zwei Dutzend Mitarbeiter betreuen, Werbung und PR … viel Verwaltungsarbeit. Teils sind und waren die Stücke von Sorell selbst inszeniert, inzwischen arbeitet er hauptsächlich mit externen Regisseuren zusammen. Die junge Generation der Theaterleute, die nicht mit Edgar Wallace groß geworden ist, inszeniert die Klassiker mit frischem Elan, macht sie so für die „alten Hasen“ wie auch das junge Publikum immer wieder spannend und interessant. Das Erfolgskonzept „Krimi live in Wohnzimmeratmosphäre“ hat auch Nachahmer gefunden, was die Betreiber als großes Kompliment werten: Das Imperial Theater in Hamburg (1994) und das Berliner Kriminaltheater (2000) setzen ebenfalls auf reine Krimikultur. Doch das Original ist einzigartig: 2001 wurde das Blutenburgtheater von der Zeitung „Welt“ als deutschlandweit führend in seinem Genre bewertet. Sorell schreibt den Verdienst dafür seinen Schauspielern zu: „Unser Erfolg beruht auf der Ensemble-Leistung. Wir setzen nicht auf ein, zwei Prominente, sondern durchweg auf echte Profis. Und wir sind anders im Umgang mit unseren Leuten, kollegialer – aber auch kritischer, da wir selbst Schauspieler sind.“ Sorell hat 50 Jahre geschauspielert, Engelke 30. Noch heute schaut er sich einzelne Aufführungen an und gibt seinen Akteuren, wenn nötig, schonungslose Rückmeldung. Das Blutenburgtheater arbeitet mit einem Stamm von 25 Schauspielern – und da sie die Nöte der Schauspieler aus eigener Anschauung kennen, achten die Intendanten darauf, dass alle ein regelmäßiges Auskommen und mindestens einmal jährlich ein Engagement bei der Kriminalbühne haben. Wenn es Subventionen von der Stadt München für den Theaterbetrieb gäbe, könnte man mehr Leute fest anstellen – aber die gibt es nicht. Irgendwann, nach Jahren, hat Sorell den Kampf um Gelder von der öffentlichen Hand aufgegeben. Und das gab ihm einen zusätzlichen Energieschub: es ohne finanzielle Unterstützung zu schaffen.

Im Frühjahr 2015 plant das Intendantenpaar eine Aufführung des Kriminalstücks „Columbo – Mord auf Rezept“, dessen Adaption als Fernsehserie mit Peter Falk berühmt wurde. Im Sommer folgt dann der neue Thriller „Ein brillanter Mord“, und im Herbst die 6. Inszenierung des Christie-Klassikers „Die Mausefalle“. Ein ganz besonderes Projekt steht dann im Frühjahr 2016 bevor: die Aufführung von „Mitternachtsspitzen“, dem Filmklassiker mit Doris Day aus dem Jahr 1960. Eines kann Sorell aber nicht planen: seine Frau ein weiteres Mal in „Zeugin der Anklage“ zu casten. Engelke feierte in der Rolle, die Marlene Dietrich auf der Leinwand unsterblich machte, im Blutenburgtheater einen großen Erfolg – und den würde ihr Mann gern wiederholen, wenn dafür nur die Zeit wäre. Vielleicht findet sich ja in den nächsten 30 Jahren noch irgendwann die Gelegenheit dazu – toi, toi, toi!